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Können Sie bitte mal diesen Politiker verfluchen?

Unter einer Autobahnbrücke in Hongkong bieten alte Frauen einen interessanten Service an: Für wenig Geld verfluchen sie jede gewünschte Person.

Felix Lill (Text) und Philipp Engelhorn (Bilder) 8 min
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«Kann ich erledigen», sagte die alte Frau, nachdem ihr der Autor klargemacht hatte, welchem Politiker er gern Schaden zufügen würde.

«Kann ich erledigen», sagte die alte Frau, nachdem ihr der Autor klargemacht hatte, welchem Politiker er gern Schaden zufügen würde.

Vielleicht entlockt dieser Ort noch in der friedlichsten Seele verborgene Aggressionen. Der farbliche Grundton ist das Grau von Beton, gemischt mit vorbeirauschenden Karosserien. In den kurzen Grünphasen peitschen schrille Trommelgeräusche der Ampeln Fussgänger über die Strasse, Sekunden später heulen Motoren von Bussen, Taxis und PKW wieder auf.

Der Lärm kann nicht entkommen, eine Schnellstrasse über den Köpfen wirkt noch als Verstärker. So brauchen die paar Schnellrestaurants an den Rändern der Kreuzung, zwischen Fischhändlern und Werkstätten, brüllende Marktschreier, um Kunden anzuwerben.

Aber alle paar Minuten hämmert sich ein besonderer Ton durch die Geräuschhölle. Beim ersten Hinhören hätte ich eine Baustelle vermutet, aber die Hammerschläge stammen von Pantoffeln mit harten Sohlen, sie werden ausgeführt von alten Frauen und sind gerichtet gegen Feinde, die damit verdammt, verflucht und aus dem Weg geräumt werden sollen.

Causeway Bay, einer der geschäftigsten Flecken von Hongkong, ist der Ort, den Menschen aufsuchen, die mit ihrem Groll nicht weiterwissen; an der Kreuzung unter der Brücke zahlen sie 50 Hongkong-Dollar (rund sechs Franken), schreiben den Namen der Zielperson auf ein Blatt Papier, den Rest erledigt eine dieser alten Frauen. Mit ihren kleinen Altären, Räucherstäbchen, Gottesanbetungen und dem harten Pantoffelschlag erledigen sie jede Person, die der Kunde wünscht.

Das Corpus Delicti: Dieser Schuh kann töten.

Das Corpus Delicti: Dieser Schuh kann töten.

Eine alte Tradition soll es sein, eine krisensichere ist es gewiss. Beim Blick auf den eingezäunten Platz zwischen den Schnellstrassen zeigt sich schnell: Feinde gibt es reichlich, Argwohn und Ratlosigkeit auch. Vor rund zehn kleinen Ständen, alle geführt von alten Frauen, stellen sich Leute an, um andere verfluchen zu lassen.

Auch ich bin gekommen, um mich zu erleichtern. Aber darf ich das? Etwas in mir sträubt sich dagegen, jemandem die Pest an den Hals zu wünschen, damit es mir besser geht. Man soll seinen Nächsten lieben, habe ich einmal in der Grundschule gelernt. Dennoch muss ich das, was hier möglich scheint, ausprobieren.

Böse wird es schon nicht sein, stille ich meine Bedenken, wenn die Praxis in den angeblich vielen Jahrhunderten, die sie schon existieren soll, nicht verboten wurde. Im Gegenteil, die Innenbehörde von Hongkong hat die Sache zum Kulturgut erklärt. Ein Volksbrauch, den es zu schützen gelte.

«Halten Sie sich fern!»

«Setzen Sie sich!», ruft mir eine Frau mit faltigem Gesicht zu, die selbst schon auf einem gepolsterten Plastic-Hocker sitzt. Sie stellt sich als Lam Wong-heng vor, sieht mit scharfem Blick zu ihrem schulterhohen Altar neben sich. Darüber hat Frau Lam ein Schild angebracht, es preist ihre zwei Dienstleistungen auf Kantonesisch und Englisch an: «blessing» (Segnen) und «villain hitting» (Bösewichtschlagen).

«Was kann ich für Sie tun?», fragt sie. «Ich würde gern versuchen, einen Bösewicht zu schlagen», sage ich. Der Lärm hier hat meine Skrupel schon kurz aufgelockert. Aber kaum ist mein Anliegen ausgesprochen, scheint es mich selber zu schlagen. Meine Magengrube kneift sich zusammen. Sollte ich lieber wieder gehen?

Am Morgen habe ich anderswo Rat gesucht, um sicherzugehen. Ich ging zu Lok Chau-ming, einem anerkannten Meister eines taoistischen Tempels in der Nähe. «Erledigen Sie keinen Fluch auf der Strasse», hat mir der Mann mit schütterem Haar gesagt. Sein Arbeitsplatz, eine in einen Felsen gebaute Heiligstätte in der Innenstadt, voll mit üppigen rotgelben Verzierungen, Blumen und Stäbchen für Wahrsagerei, bietet ähnliche Dienste. Aber bei ihm käme niemand zu Schaden, eher gehe es um die Umwandlung von negativer in positive Energie, sagte er. Das Ergebnis könne auch eine Versöhnung sein.

«Mein Ritual dauert 108 Tage»: In einem taoistischen Tempel, wo man nicht nur Verwünschungen, sondern auch Versöhnungen anbietet.

«Mein Ritual dauert 108 Tage»: In einem taoistischen Tempel, wo man nicht nur Verwünschungen, sondern auch Versöhnungen anbietet.

Eine schmale Treppe hinauf, wo der Meister Lok seine Kunden empfängt, erklärte er mir von seinem dunklen Schreibtisch aus, gegenüber einem Altar mit den Opfergaben: «Mein Ritual dauert 108 Tage. Jeden Tag werde ich Räucherstäbchen anzünden, damit der Konflikt aus dem Weg Ihres Lebens weicht.» Das Geschäft der Frauen auf der Strasse, das sei nur die schnelle, schmutzige Variante. Ein kurzer Hokuspokus, mehr nicht.

Fast war ich bereit, mich von Herrn Lok behandeln zu lassen. Dann verriet er mir den Preis des Rituals: 1200 Hongkong-Dollar, mehr als 150 Franken. Mir stockte der Atem, ich bat stattdessen um eine Wahrsagerei für 50 Dollar (6 Franken); wie es beruflich für mich weitergeht, wollte ich wissen.

Herr Lok schüttelte drei Münzen aus einem Schildkrötenpanzer in eine Glasschale, drehte die Münzen um, rezitierte etwas, schüttelte aufs Neue. Anhand meines Geburtsdatums konnte er etwas erkennen. «Es sieht gut aus. Aber wenn Sie beruflich vorankommen wollen, dann setzen Sie sich nicht zu sehr für politische Dinge ein. Achten Sie zuerst auf Ihre eigenen Ziele.» Zum Abschied rief er mir noch einmal hinterher: «Und halten Sie sich fern von den Frauen auf der Strasse!»

«Die Götter sagten es mir»: Wahrsager bei der Arbeit.

«Die Götter sagten es mir»: Wahrsager bei der Arbeit.

Gewarnt bin ich, aber umso neugieriger. Zumal das, was Frau Lam auf der Strasse erledigt, nicht gleich schlecht ist, nur weil der Meister Lok das so sieht. Frau Lam sagt, sie folge nicht dem Taoismus, sondern einer Volksweisheit, die dem taoistischen Feng-Shui bloss nahesteht: Dem Schlechten sollte man nicht tatenlos zusehen, sondern es ausbalancieren. Und Lam Wong-heng behauptet, die richtige Frau dafür zu sein.

«Vor 30 Jahren habe ich die Aufgabe erkannt. Die Götter sagten es mir.» Als Jungverheiratete zog sie aus Festlandchina nach Hongkong, um einer Verwandten ihres Mannes Gesellschaft zu leisten. Als sie an einer schweren Erkältung erkrankte, die Medikamente der Ärzte sie nicht kurieren wollten, bat Frau Lam um metaphysische Hilfe. «Ich wurde gesund. Aber die Götter forderten von mir, dass ich fortan den Menschen helfe.»

«Was soll das bringen? Sie wollen sich selbst aus dem Weg räumen?»

So wurde die heute 82-jährige Lam Wong-heng zur verfluchenden Frau. Seit drei Jahrzehnten sitzt sie Tag für Tag unter der betäubend lauten Brücke und befreit Menschen von ihrer sozialen Last. Ihre Hände sind faltig, dicke Adern drücken sich unter der gealterten Haut hervor. Die Luft ist zugig, im Schatten ist es kalt. Unter ihrer dunklen Strickjacke trägt sie vier Schichten von Pullovern und Blusen. «Ich bewege mich ja nur beim Schlagen so richtig.»

Das aber nicht zu selten, im Durchschnitt zehnmal am Tag, ein Ritual dauert um die 20 Minuten. Morgens um neun fängt sie an, bleibt bis nach der Rushhour am Abend. «Die meisten meiner Kunden lassen Geschäftspartner und Vorgesetzte verfluchen. Geliebte kommen mir auch häufig unter.» Wenn sie spricht, stützt Lam Wong-heng die Hände auf ihren Schoss, blickt ins Leere. Die Antworten sind kurz, sie ist nicht zum Plaudern hier und auch nicht nur zum Helfen. Nicht zuletzt, so scheint mir, zum Geldverdienen.

Ein Bösewicht von Format

Ich habe vorsichtshalber drei Zielpersonen mitgebracht. Drei ausgedruckte Porträtbilder. Zuerst ist da Shredder, ein richtiger Bösewicht. In der Lieblingszeichentrickserie meiner Kindheit, den Ninja Turtles, war er der Widersacher meiner Helden. In jeder Episode versuchte Shredder aufs Neue, mit seinen fiesen Tricks die coolen Turtles zu besiegen und dann ganz New York City zu beherrschen. Ohne einen Shredder wäre die Welt besser dran. Und ich tue mit dieser Verdammnis niemandem weh.

Frau Lam sieht das Bild der Trickfigur an, ihren silbernen Helm, den metallenen Mundschutz und den lila Umhang. Sie schüttelt den Kopf. «Warum keine echte Person?», will sie wissen. – «Okay, okay, echte Person. Ich verstehe.» Mein zweites Bild: eines von mir selbst. Ist nicht jeder sich selbst der ärgste Feind?

«Was soll das bringen? Sie wollen sich selbst aus dem Weg räumen?», fragt Frau Lam. – «Na ja», sage ich. «Auf Deutsch nennen wir ihn den inneren Schweinehund. Besonders stark ist er morgens beim Aufstehen. Und er hindert mich den ganzen Tag über an Dingen, die mich Überwindung kosten. Wenn Sie den für mich beseitigen könnten?»

Lam Wong-heng mustert mich mit einem Unglauben in ihren Augen, als wäre sie selten um etwas Blöderes gebeten worden. «Wenn Sie einen Feind haben, einen echten, dann kann ich Ihnen helfen. Haben Sie einen?» Hinter mir wartet schon der nächste Kunde, ich muss mich beeilen. Aber wenn ich schon hier bin, die Nächstenliebe über Bord werfe, dann will ich wenigsten einen Dienst an der Gesellschaft leisten.

«Schlechte Person! Schlechte Person!»: Beim Verfluchen wird unter anderem ein Papier zerfetzt, auf dem der Name des Verhassten steht.

«Schlechte Person! Schlechte Person!»: Beim Verfluchen wird unter anderem ein Papier zerfetzt, auf dem der Name des Verhassten steht.

Zitternd hole ich den dritten Ausdruck aus meiner Tasche, darauf zu sehen ist US-Präsident Donald Trump. Ohne ihn und seine Partei wäre die Welt im Moment besser dran, finde ich. Dass viele Menschen gesellschaftlichem Fortschritt skeptisch gegenüberstehen, ist bedauerlich genug. Dass man eine ganze Partei dagegen auf Linie bringt, gegen Ausländer und eine diverse Gesellschaft Stimmung macht, nebenbei noch Arbeitnehmerrechte abzuschaffen versucht, das kann ich verdammen. Oder verfluchen.

Trotzdem bringe ich meine dritte Wahl nur flüsternd über die Lippen: «Ich mag diesen Politiker nicht. Würden sie also bitte, wenn’s geht?» Mit strenger Stimme ruft Frau Lam: «Kann ich erledigen!» Auf ein hauchdünnes Blatt Papier mit grüner Verzierung muss ich den Namen meines Bösewichts schreiben. Aber schon wird mir wieder etwas flau, und ich schreibe genereller «Trumpism» auf den Zettel. «Ich tue hier gerade Gutes», flüstere ich mir selbst zu.

In die Urne vor vier Porzellanfiguren auf dem Altar steckt Frau Lam zwei brennende Räucherstäbchen, dann schliesst sie ihre Augen, beginnt zu rezitieren. Sie scheint den Göttern näherzukommen. Sie steht auf, wirbelt ihre Arme zum Altar. Dann legt sie das Trumpism-Papier auf einen Ziegelstein, nimmt einen Pantoffel in die Hand und schlägt drauf. Einmal, zweimal, dreimal, zwanzigmal. «Schlechte Person! Schlechte Person!», schreit sie. Nach zwei Minuten, in denen Frau Lam meinen Zettel zertrümmert und zerfetzt, ist das Papier nicht mehr zu erkennen.

Scheine in der Jackentasche

Sie holt zwei längliche, geschliffene Holzstücke hervor, die je eine runde und eine flache Seite haben, und wirft sie auf den Altar. Dreimal landen die Stücke auf den flachen Längsseiten, beim vierten Mal liegt eines auf der Kante. «Ein sehr schwieriger Fall», murmelt sie. So einen störrischen Bösewicht erlebe sie selten. Eines der Holzstücke muss auf der flachen Seite landen, eines auf der runden, erst dann entfaltet der Fluch seine Wirkung, dann herrscht Balance.

«Endlich!», ruft Lam Wong-heng. «Da haben wir’s.» Der junge Mann hinter mir im Anzug, der als Nächstes dran ist und alles in meinem Rücken verfolgt hat, schreit jubelnd auf. Lam Wong-heng kassiert mich ab und weist schon den nächsten Kunden auf den kleinen Plastic-Hocker, während sie mein Geld noch in ihrer Strickjackentasche verstaut. Mir huscht jetzt ein Lächeln übers Gesicht. «Dem Trumpism hab ich’s gezeigt.» Oder? Was hatte der Wahrsager Lok Chau-ming noch gesagt über politisches Engagement? Und meine Karriere?


Der Glaube an die Kraft von Verwünschungen ist aus zahlreichen Kulturen bekannt. Über die Wirkung derselben gibt es nur wenig gesicherte Erkenntnisse. Dass es wirken kann, jemandem den Tod zu wünschen, legen Forschungsergebnisse aus der Südsee nahe. Voraussetzung dafür ist aber, dass das Opfer von der Verfluchung weiss, und es muss selber an die Macht der Voodoo-Sprüche glauben. Dann, so stellten die Ethnologen fest, kann der Tod durch Voodoo aber tatsächlich innert Tagen eintreten. Auch die katholische Kirche machte ähnliche Erfahrungen. Da die Letzte Ölung schon wiederholt das sofortige Ableben bewirkte, wurde sie beim Zweiten Vatikanischen Konzil 1960 in Krankenölung umbenannt.