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«Die Österreicher sind im Grunde nicht dumm»

Unser Nachbarland hat ein neues Parlament und die Regierung gewählt. Die meisten Österreicher glauben entweder an Schicksal oder an Zufall, jedoch nicht an die Politik. Das hat seine Gründe.

Thomas Glavinic (Gastautor) 5 min
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Die Hauptstadt prägt das Bewusstsein des Landes: Ein Kellner serviert im Café Prückel in Wien. (Bild: Gerhard Trumler, Getty Images)

Die Hauptstadt prägt das Bewusstsein des Landes: Ein Kellner serviert im Café Prückel in Wien. (Bild: Gerhard Trumler, Getty Images)

Wenn in Österreich Wahlen bevorstehen, ist im Vorfeld stets eine Ereigniskette zu beobachten, an die sich bis zur darauffolgenden Wahl niemand mehr erinnert, als bekäme die Allgemeinheit wie nach einem chirurgischen Eingriff nach jedem Urnengang eine Amnesie-Tablette verabreicht.

Etwa einen Monat vor wichtigen Wahlgängen wird zunächst von den lokalen, bald darauf von den internationalen Medien festgestellt, dass rechte Parteien in Meinungsumfragen voran liegen, mal deutlich, mal «uneinholbar». In den Redaktionen ertönen Alarmglocken, Alarmlichter leuchten auf. Ein Blick auf die Landkarte weist Österreich als einen Hotspot des Rechtsextremismus in Europa aus, und zwar als besonders berüchtigten: Das Lämpchen über Österreich leuchtet dunkelrot. Die anderen Lämpchen - über Teilen der Niederlande (dunkelrot), Frankreichs (dunkelrot), der Schweiz (hellrot) und dem Osten Deutschlands (dunkelrot) schimmern derzeit nur matt.


Der Schriftsteller wurde 1972 in Graz geboren und lebt heute in Wien und Rom. Seit 1991 schreibt er Romane, Essays, Erzählungen und Reportagen. Für den Roman «Der Kameramörder» erhielt er den Friedrich-Glauser-Preis. Mit «Das bin doch ich» kam Glavinic auf die Shortlist für den deutschen Buchpreis. Viele seiner Werke wurden verfilmt und im Theater aufgeführt.


Nach dieser Diagnose beginnt der aufgeklärte Journalismus nachzuforschen. Seine Recherchen fördern zutage, dass Wien in verschiedenen Rankings unter den lebenswertesten Städten Europas seit gut einem Jahrzehnt Platz 1 einnimmt, und doch ist hier die rechte FPÖ drauf und dran, bei den bevorstehenden Nationalratswahlen die stärkste Partei zu werden.

Da dies ein Widerspruch ist und somit ein Irrtum vorliegen muss, entsenden ausländische Medien ihre Korrespondenten, damit diese den Wienern auf den Zahn fühlen und herausfinden, wer nun die Deppen sind: Das Volk, das zwar höflich grüsst, aber vielleicht geistig nicht ganz auf der Höhe ist und zumindest in Gedanken mit Sturmgewehren und Pickelhelmen durch die sonnige Stadt defiliert?

Oder die Ranking-Ersteller, weil ihre Lieblingsstadt vielleicht in Wahrheit hauptsächlich von Messerstechern und Drogenhändlern bevölkert ist, so dass die Messerstecher gar keine unschuldigen Opfer mehr finden und sich aus Langeweile gegenseitig erstechen, so wie die Drogenhändler alle regulären Kunden bereits versorgt haben und sich den Stoff nun aus Langeweile gegenseitig verkaufen?

Oder doch die Analytiker der Meinungsumfrageinstitute, weil am Ende herauskommt, dass die Rechtsextremisten ein weiteres Mal den Ballhausplatz, wo das Bundeskanzleramt zu finden ist, nicht erobern konnten?

Wir werden es nicht erfahren, denn Nachwahlanalysen der Vorwahlanalysen finden selten statt. Zu Unrecht, könnten sie doch mithelfen, dass Politiker, Medien und Wähler endlich aufhören, sich selbst auf den Leim zu gehen, was so viel bedeutet wie: endlich aufhören, sich selbst und die anderen verstehen zu wollen. Die Wiener sind nämlich nichts Besonderes. Sie sind weder besonders gut noch besonders böse. Sie sind - Wiener.

Von den 8 Millionen Österreichern leben beinahe 2 Millionen in Wien. Obwohl der Rest des Landes so tut, als wäre er ganz anders als «die Wiener», ist es dennoch diese sehr alte Stadt, die für das Grundbewusstsein des ganzen Landes steht, für das, was die Österreicher sind. Zum Beispiel definieren sie sich gern über Abgrenzung. Die Restösterreicher sind nach ihrer Selbsteinschätzung «nicht wie die Wiener». Die Wiener sind nach ihrer Selbsteinschätzung «nicht wie die Deutschen».

Wenn man unbedingt nach Antworten suchen will, wie denn die hohe Lebensqualität in Wien und die vermeintlich hohe Bereitschaft der Bevölkerung, rechte oder konservative Parteien zu wählen, zusammenpassen, wie wäre es denn mit dieser: Wer in der Stadt mit der höchsten Lebensqualität in Europa lebt, weiss über diesen Umstand selbst nur Bescheid, wenn er in vielen anderen Städten gelebt hat. Wer nicht in vielen anderen Städten gelebt hat, darf sich wieder seinen ureigenen Grund suchen, mit dem Zustand der Welt zu hadern, denn dass es bei ihm besonders schön ist, wird er Ihnen nicht abnehmen, so eindringlich Sie ihm dies versichern mögen.

Das ist schon das ganze Geheimnis der Österreicher: Sie sind immerzu auf der Suche nach einem Sündenbock, selbst wenn noch gar keine Sünde begangen wurde. Man weiss nie, was kommt, und man könnte ja plötzlich einen brauchen.

Ich kann nicht sagen, ob diese Haltung den Österreichern immer schon eigen war oder ob es die moderne Politik gewesen ist, die ihnen die Freude an der Sündenbockjagd eingepflanzt hat. Der Politik ist ja vieles zuzutrauen, aber dass sie sich in die DNA eines Volkes hackt? Tatsache ist, dass sich jeder Österreicher grundsätzlich mehr oder weniger unwohl fühlt.

Etwas passt nicht ganz, und wenn doch alles passt, stimmt zumindest etwas mit der Sauberkeit auf der Strasse oder mit dem Wetter nicht. Die, denen das Wetter und die Strasse akzeptabel erscheinen, haben das Gefühl, irgendwo lauere ihr wahres Leben auf sie. Das bessere, das echte, das glücklichere, das richtige Leben, das sie nur deswegen nicht führen, weil- ja, warum? Wer ist daran schuld? Sie selbst können es ja schon mal nicht sein.

Insgeheim sieht sich jeder Österreicher in der gottgewollten Ordnung der Dinge als Herrschender. In der Realität sieht er sich als Beherrschter. Was er auch ist. Der Lauf der Welt beherrscht uns Menschen nun einmal, jeden Einzelnen von uns. Manche von uns wollen das nicht wahrhaben. Solchen Leuten erzählt ein gewitzter Politiker dann, er könnte etwas verändern. Die meisten glauben ihm das natürlich nicht. Was nicht heisst, dass sie ihn nicht wählen. Zumindest wenn sie wissen, dass sie damit irgendeinen Mächtigen ärgern. Wir ärgern andere nämlich gern.

Im Grunde sind die Österreicher nicht dumm. Die meisten von uns glauben nicht an die Politik, denn sie wissen: Die Welt wurde von Gott gemacht, und was im Hier und Jetzt geschieht, ist ebenso wie das Morgen vom Wirken eines höheren Willens durchdrungen.

Der Österreicher glaubt entweder an Schicksal oder an Zufall, und wer an eines von beidem glaubt, der glaubt nicht an Politik. Die Amerikaner zum Beispiel glauben an die Politik, so wie ein Kind an den Weihnachtsmann glaubt, der in Österreich in Gestalt des Christkinds Station nimmt.

Aber als die Vereinigten Staaten von Amerika gegründet wurden, stand der «Steffl», wie der Stephansdom von den Wienern genannt wird, schon seit einem halben Jahrtausend da, wo er noch in tausend Jahren stehen wird, weil sogar der Weltuntergang Wien nicht erreichen wird, denn dem echten Wiener ist der Weltuntergang völlig powidel, sprich: egal, und was man ignoriert, das existiert nicht, das glauben die Österreicher.

Die Welt ist ohnehin zu kompliziert, um sich länger mit ihren grundlegenden Fragen zu beschäftigen. Die Wirklichkeit hält in unserer Zeit so viele alternative Fakten bereit, dass man beim Versuch, sie zu durchdringen, nur scheitern kann.

Die Wirklichkeit im Jahr 2017 ist zu einer einzigen Desinformationskampagne verkommen, und wer hier nach substanziellen Wahrheiten sucht, muss fleissiger sein als ein Hundertjähriger, der soeben an der Universität Soziologie, Philosophie, Recht, Wirtschaft, Medizin und Sportwissenschaft inskribiert hat und seine Seele an den Teufel verliert, wenn er nicht alle Abschlüsse schafft.

Deshalb bleibt in Österreich stets fast alles beim Alten. Selbst der Generationswechsel, der nun bevorsteht, wenn die Österreicher wie erwartet die konservative ÖVP mit ihrem 31-jährigen Spitzenkandidaten, Aussenminister Sebastian Kurz, zur mit Abstand stärksten Partei machen, wird so vonstatten gehen, dass alles bleiben wird, wie es ist.

Das muss nichts Schlechtes sein. Es geht uns nämlich verdammt gut in Österreich.