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Feministin Anne Wizorek: «Sexismus ist wie Luftverschmutzung»

Nach der Affäre um Filmproduzent Harvey Weinstein berichten Tausende Frauen im Internet über ihre eigenen Erfahrungen mit sexueller Belästigung. Feministin Anne Wizorek sagt, warum sich auch die Männer engagieren sollten.

Anja Burri und Lena Schenkel 8 min
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Frauen demonstrieren in New York gegen Staatsanwalt Cyrus R. Vance, der erste Anschuldigungen gegen Harvey Weinstein nicht verfolgt hatte (13. Oktober 2017). (Bild: Spencer Platt / Getty Images)

Frauen demonstrieren in New York gegen Staatsanwalt Cyrus R. Vance, der erste Anschuldigungen gegen Harvey Weinstein nicht verfolgt hatte (13. Oktober 2017). (Bild: Spencer Platt / Getty Images)

NZZ am Sonntag: Dutzende Frauen beschuldigen Harvey Weinstein der sexuellen Übergriffe. Können sich Männer wie er nun nicht mehr alles leisten?

Anne Wizorek: Das sehe ich anders. Vor einem Jahr gab es in den USA schon einmal eine grosse Sexismus-Debatte. Damals ging es um Donald Trump, den US-Präsidentschaftskandidaten. In Videoaufnahmen gab er zu, dass er Frauen sexuell belästigt und dies sogar als sein gutes Recht betrachtet. Die Empörung war gross. Jetzt ist er trotzdem der mächtigste Mann der Welt. Täter müssen oft keine Konsequenzen befürchten. Beim US-Schauspieler Bill Cosby oder dem US-Fernsehmoderator Bill O’Reilly reichte es auch nicht, als nur eine Frau an die Öffentlichkeit trat. Es müssen immer ganz, ganz viele sein, damit man den Frauen glaubt und die Täter zur Rechenschaft zieht.

Die Beispiele betreffen alle ältere Männer. Sind sie eine aussterbende Spezies, die nun von einer neuen Männergeneration abgelöst wird?

Ich wünschte, es wäre so einfach. Aber auch Typen wie Weinstein haben Familien, sie ziehen Kinder gross und geben ihre sexistischen Vorstellungen und Verhaltensweisen weiter. Auf der ganzen Welt gibt es nach wie vor Bemühungen, Frauenrechte zu beschneiden, nicht zuletzt infolge des politischen Rechtsrucks, wie wir ihn in Polen, Österreich oder den USA sehen. Er zeichnet sich durch antifeministische Politik und Angriffe auf die Geschlechterforschung aus. Treibende Kräfte dahinter sind nicht allein ältere Männer, sondern auch jüngere Personen und Frauen.

Wie hätte sich der Fall wohl entwickelt, wenn Harvey Weinstein aussehen würde wie George Clooney?

Solche Fragen suggerieren, es gehe eigentlich um Komplimente oder Flirtversuche. Wenn der Mann gut aussehe, passiere alles auf einer einvernehmlichen sexuellen Ebene. Genau so werden Frauen immer noch erzogen: Man redet ihnen ein, dass sexistische Sprüche oder Belästigungen zum Frausein dazugehören. Dabei geht es um sexualisierte Gewalt, um einen Machtmissbrauch. Sexismus ist der gesellschaftliche Nährboden dafür und sexualisierte Gewalt ein Ausdruck davon. Fragen nach dem Aussehen lenken vom Problem ab und verharmlosen es.

Was können wir aus einem solchen Einzelfall lernen?

Harvey Weinstein ist eben kein Einzelfall. Er zeigt sehr gut, wie solche Taten unsichtbar gemacht werden. Dieses offene Geheimnis um Weinstein, ein System von schweigenden Mitwissern, wie er es über Jahrzehnte aufbaute, ist sehr typisch für Täter. Für viele ist der Fall ein Augenöffner, weil sie nie gedacht hätten, dass sogar die Reichen und Schönen nicht davon verschont bleiben. Wenn Abhängigkeitsverhältnisse ausgenutzt werden, sind jene, die mehrfach diskriminiert sind, aber noch stärker betroffen: schwarze, behinderte oder homosexuelle Frauen.


Die Hashtag-Feministin

(Bild: Adrian Baer / NZZ)

(Bild: Adrian Baer / NZZ)

Anne Wizorek, 36, ist selbständige Beraterin für digitale Medien. Die Bloggerin und Autorin lebt in Berlin. 2013 löste sie auf dem Kurznachrichtendienst Twitter eine Debatte zum Thema Alltagssexismus aus. Tausende Betroffene berichteten unter dem Hashtag #aufschrei über ihre eigenen Erfahrungen. Die Kampagne wurde mit dem Grimme Online Award ausgezeichnet.
2014 erschien ihr Buch «Weil ein #Aufschrei nicht reicht. Für einen Feminismus von heute».


Warum funktioniert dieses System, in dem Männer ihre Macht missbrauchen und die anderen schweigen?

Schon die Art und Weise, wie wir darüber diskutieren, trägt dazu bei. Fälle wie der von Weinstein beschreiben viele Medien als «Sex-Skandal». Das ist schlicht verharmlosend. Sex ist etwas Schönes, das im Einverständnis passiert. Sexualisierte Gewalt hat damit nichts zu tun. In unserer Gesellschaft reden wir den Betroffenen zuerst einmal ein, dass sie übertreiben, dass sie selber schuld sind. Das schafft ein Klima, in dem sich niemand traut, etwas zu sagen. Wenn Frauen sich wehren, müssen sie mit Gegenangriffen rechnen. Kein Wunder: Unser tägliches Denken und Handeln ist von Geschlechterstereotypen geprägt. Diese sind immer noch so angelegt, Frauen abzuwerten und gesellschaftlich niedriger zu stellen. Das fängt schon im Kindesalter an. Wir alle kennen die rosaroten und blauen Spielecken.

Was haben rosarote und hellblaue Spielecken mit Sexismus zu tun?

Bereits Kinder werden so in ziemlich starre Geschlechterrollen gepresst. Dafür gibt es einen Ausdruck: Pinkifizierung. Produkte für Mädchen kommen in Pink auf den Markt, während ein höchstens leicht abgewandeltes Produkt für Jungs in Blau verkauft wird. Wenn es Schnuller mit der Aufschrift «Bad Boy» für Jungs und «Drama Queen» für Mädchen gibt, dann ist das Sexismus für die ganz Kleinen, den die Eltern unterstützen.

Solche Produkte muss niemand kaufen.

Ein Klassiker ist auch die Situation im Kindergarten: Ein Junge ärgert ein Mädchen. Das Mädchen beschwert sich bei der Kindergärtnerin und kriegt zu hören: Der kann dir nur nicht anders zeigen, dass er dich mag. Das Mädchen wird nicht richtig ernst genommen und lernt: Das war eigentlich ein Kompliment. Der Junge dagegen muss keine Konsequenzen befürchten. Mädchen sind die «Zarten, Netten, Lieben», die immer ruhig sein sollen. Jungs dürfen laut sein, sich austoben, «die sind halt so». Mädchen lernen so, dass sie nicht unbequem sein und in Konfliktsituationen besser kuschen sollen. Jungs lernen, dass sie ein Nein nicht akzeptieren müssen. So wird schon früh ein Machtgefälle zementiert, das sich in vielen Bereichen fortsetzt: von der Abwertung von Berufen, die vorwiegend von Frauen ausgeübt werden, über ungleichen Lohn bis zur fehlenden Macht im Politbetrieb.

Es gibt aber auch sehr mächtige Frauen, Bundeskanzlerin Angela Merkel zum Beispiel.

Sie bleibt trotzdem eine Ausnahme. Gerade Deutschland ist ein gutes Beispiel. Seit den Wahlen im September haben wir den geringsten Frauenanteil im Bundestag der letzten zwanzig Jahre. Die Meilensteine, die wir bezüglich Frauenbeteiligung erreicht haben, sind uns nicht mal sicher. Stattdessen gibt es immer wieder Rückschritte.

«Auch ich habe sexistische Vorstellungen verinnerlicht.»

Es ist aber nicht so, dass alle Männer sich gegen Frauen verschwören und sie bekämpfen.

Im Grunde ist es ein über Jahrhunderte hinweg normalisiertes Kleinhalten und Erniedrigen von Frauen, das sich durch alle gesellschaftlichen Strukturen zieht. Sexismus ist wie Luftverschmutzung: An einigen Orten ist es schlimmer und einige Menschen sind noch einmal stärker davon betroffen. Aber wir sind tatsächlich alle davon beeinflusst. Auch ich habe sexistische Vorstellungen verinnerlicht.

Zum Beispiel?

Als ich begann, mich stärker mit Feminismus auseinanderzusetzen, erkannte ich, wie auch ich das spezielle Konkurrenzverhalten verinnerlicht hatte, das schon Mädchen vermittelt wird. Ich verstand, dass ich mich nicht kleiner fühlen oder neidisch sein muss, sobald eine andere Frau Erfolg hat. Dieses Konkurrenzverhalten ist darin begründet, dass selbst heute Frauen in Machtpositionen dort meist alleine auf weiter Flur sind. Eine weitere Frau deuten sie dann eher als ein Risiko, den eigenen Posten zu verlieren, weil mehrere Frauen auf dieser Ebene nicht vorgesehen sind. Niemand von uns ist frei von Sexismus. Aber wir können diese Verhaltensmuster reflektieren und unser Denken und Handeln verändern.

Auch Männer sind von Sexismus betroffen. Zum Beispiel stellt die Werbung Männer gerne als triebgesteuerte Trottel dar.

Die Männer sollten auch von sich aus klarmachen, dass sie es nicht gut finden, so dargestellt zu werden. Starre Geschlechterrollen schaden uns allen, wenn auch auf unterschiedliche Weise. Das beginnt ebenfalls bereits im Kindergarten: Akzeptieren wir es zum Beispiel, wenn ein Junge mit einem pinkfarbenen Rock in den Kindergarten kommt, weil er den gerne tragen möchte? Oder kriegt er vermittelt, dass es nicht in Ordnung ist, wie er rumläuft?

Den Männern wird ebenfalls eine bestimmte Rolle aufgedrängt. Gerade diese Woche hat der Bundesrat in der Schweiz einen vierwöchigen Vaterschaftsurlaub abgelehnt.

Damit wird erneut ein bestimmtes Familienmodell mit klar verteilten Rollen zementiert. Das klischierte Männlichkeitsbild setzt Männer auch unter Druck. Dadurch, dass sie immer die Starken sein müssen, keine Gefühle zulassen dürfen ausser eben Wut, erkranken sie oft an Depressionen. Das trägt dazu bei, dass Männer öfter Suizid begehen.

«Prangert ein Mann Sexismus an, hat das ein ganz anderes Gewicht, als wenn die betroffene Frau etwas sagt.»

Es gibt viele Männer, die in dieser Debatte rund um Weinstein sagen: «Bei uns im Umfeld gibt es keinen solchen Sexismus; es gibt gar nichts, worüber wir konkret sprechen könnten, und deswegen halten wir uns zurück.»

Das glaube ich jetzt nicht unbedingt. Wenn jeder einmal tief in sich hineinhorcht, wird er immer irgendetwas finden, was nicht in Ordnung war. Und wenn nicht, sollte es ihn nicht davon abhalten, sich gegen Sexismus zu engagieren. Männer können auch reklamieren, wenn Frauen im Fernsehen sexistisch dargestellt werden. Ich kriege inzwischen viele Rückmeldungen von Männern, die sagen: «Ja, wenn mein Kumpel solche Sprüche gemacht hat, habe ich halt nie etwas gesagt; das hat mich vielleicht innerlich angewidert, aber ich habe ihm nicht wirklich Paroli geboten.» Das ist ein Problem. Denn Männer haben beim Thema Sexismus dieses Privileg: Männer hören anderen Männern eher zu und glauben ihnen eher. Prangert ein Mann Sexismus an, hat das ein ganz anderes Gewicht, als wenn die betroffene Frau etwas sagt.

Können Sie die Menschen nicht verstehen, die sagen: «Wir wollen uns nicht dauernd über blöde Sprüche oder Werbung aufregen»?

Klar - würde ich auch gerne! Ich würde auch gerne nicht täglich über Sexismus und sexualisierte Gewalt reden müssen. Aber sie sind eine Realität, und wenn ich das nicht tue, würde ich diese einfach akzeptieren. Je mehr Menschen sich dagegen wehren, desto weniger anstrengend wird es für uns alle.

Man hat schon den Eindruck, dass sich Männer weniger für das Thema interessieren. Auch an Ihren Lesungen sitzen jeweils fast nur Frauen im Publikum.

So funktioniert eben strukturelle Diskriminierung: Diejenigen, die davon direkt und am stärksten betroffen sind, engagieren sich zuerst. Männer müssen verstehen, dass sie in jedem Fall mitverantwortlich sind dafür, Sexismus zu bekämpfen. Denn dieser betrifft ja auch die Frauen im Leben der jeweiligen Männer. Wenn sich die Männer einmal überlegen würden, welche Frauen, zu denen sie eine persönliche Beziehung haben, schon von sexualisierter Gewalt betroffen waren - das alleine müsste sie doch wütend genug machen, etwas verändern zu wollen.

Im Zuge des Skandals um Harvey Weinstein melden sich nun Tausende Betroffene auf der ganzen Welt im Internet zu Wort. Das war schon 2013 so, als Sie eine ähnliche Debatte lancierten. Was hat das gebracht?

Auf dem Kurznachrichtendienst Twitter haben damals unter dem Schlagwort #aufschrei Betroffene ihre Erfahrungen mit Sexismus und sexualisierter Gewalt geteilt. Nicht wenige sprachen zum ersten Mal darüber. So etwas gab es im deutschen Sprachraum noch nie.

Besteht bei sogenannten Hashtag-Kampagnen nicht die Gefahr, dass sie bloss eine mediale Hysterie mitbefeuern - ohne dass es echte Veränderungen gibt?

Gesellschaftlicher Wandel vollzieht sich langsam und ist nicht immer sofort sichtbar. Ich habe mich gerade mit einer Kollegin ausgetauscht, die derzeit ebenfalls viele Interviews zum Thema gibt. Wir stellten beide fest, dass inzwischen schon anders über das Thema gesprochen wird als noch zur Zeit der Aufschrei-Aktion.

Inwiefern?

Ich erlebe es so, dass Journalisten, mit denen ich spreche, ein anderes Bewusstsein für die Problematik haben. Es hat sich mehr Fachwissen etabliert, Zahlen zu den Betroffenen sind bekannt: etwa, dass in Deutschland jede dritte Frau von körperlicher und/oder sexualisierter Gewalt betroffen ist. Dieses Wissen war vor vier Jahren nicht selbstverständlich. Das sehe ich als Verbesserung.

Der Fall Weinstein zeigt, dass es wichtig ist, den Namen des Täters zu nennen. Bei Kampagnen im Internet ist das anders. Ist diese Anonymität nicht ein Problem?

Diese Entscheidung müssen die betroffenen Personen selbst fällen. Ich finde es berechtigt, sich zuerst darauf zu konzentrieren, überhaupt über solche Erfahrungen zu sprechen und sich davon frei zu machen - diesen Aspekt darf man nicht unterschätzen. Aber klar, am Ende müssen wir danach fragen, wer diese Täter, vielleicht auch in unserem Umfeld, sind. Und wie Mitwisser diese über Jahre decken oder deren Verhalten verharmlosen. Wir müssen uns fragen, wie konsequent wir eigentlich sind, wenn wir von solchen Dingen erfahren: Machen wir etwas, oder wird das irgendwo im Hinterkopf verstaut? Interessant finde ich, dass in Frankreich der Weinstein-Skandal genau dazu geführt hat: Unter dem Hashtag «balancetonporc» – Verrate das Schwein) – nennen die Betroffenen Namen.

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