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Buchtipp: Claude Lévi-Strauss oder der Ethnologe, der auch Paris erforschte

Er ist einer der grossen Intellektuellen des 20. Jahrhunderts: Claude Lévi-Strauss hat als Erkunder fremder Kulturen Weltruhm erlangt. Eine brillante Biografie zeigt, wie «der intelligenteste Mann Frankreichs» sogar die heimische Stammesgesellschaft durchdrang.

Manfred Koch 5 min
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Claude Lévi-Strauss reiste in den 1930er Jahren erstmals in den Amazonas und erforschte das Zusammenleben indigener Völker (1936).

Claude Lévi-Strauss reiste in den 1930er Jahren erstmals in den Amazonas und erforschte das Zusammenleben indigener Völker (1936).

«Der Amerikaner, der den Kolumbus zuerst entdeckte, machte eine böse Entdeckung.» Lichtenbergs Aphorismus könnte als Wahlspruch über dem Gesamtwerk von Claude Lévi-Strauss stehen. Wo immer der wohl bedeutendste Ethnologe des 20. Jahrhunderts als «Gründervater des Strukturalismus» vorgestellt wird – einer, wie es scheint, strengen technizistischen Denkrichtung, die sogar dazu neigt, menschliche Beziehungen in mathematischen Formeln darzustellen –, wird allzu leicht vergessen, dass dieser Mann in seinem Innersten ein glühender Romantiker war.

Die westliche Zivilisation hat in seinen Augen den Menschen brutal von der Totalität des Naturlebens abgetrennt. 1492, mit der Entdeckung Amerikas (Lévi-Strauss sprach stets von «Eroberung»), kam sie als Verhängnis über die dort ansässigen indigenen Völker. Von ihnen Zeugnis abzulegen im Augenblick ihres Verschwindens, die vielfältigen Weisen, in denen sie die Natur erfahren und auslegen, zu dokumentieren und dabei zu zeigen, dass das «wilde» Welt-Denken der wissenschaftlichen Welterfassung keineswegs unterlegen ist – das war für Lévi-Strauss die Aufgabe der Ethnologie.

Er wollte mit den Vögeln sprechen

Die in Frankreich mehrfach preisgekrönte Biografie von Emmanuelle ­Loyer legt gleich zu Beginn mit erfreulicher Deutlichkeit den Akzent auf den Romantiker Lévi-Strauss. Wenn der Leser das Buch aufklappt, stösst er als Erstes auf die bekannte Fotografie von Anita Albus, die den alten, weisshaarigen Gelehrten in ländlicher Umgebung mit einer vergnügten Dohle auf der Schulter zeigt.

Dann folgt als Motto vor der Einleitung Lévi-Strauss’ Bekenntnis, sein Traum sei stets gewesen, «mit einem Vogel sprechen zu können». Und die Einleitung schliesst mit seiner Forderung nach einem erweiterten Humanismus, der über die «Rechte des Menschen» hinausgeht zur Proklamierung von «Rechten des Lebendigen», nach dem Vorbild jener Naturvölker, die auch die Nichtmenschen in das soziale Zusammenleben zu integrieren verstanden.

Wie ein Rahmen um das Buch wirkt schliesslich ein zweimal, im ersten und letzten Kapitel, wiedergegebenes Zitat (kurioserweise in zwei verschiedenen Übersetzungen), in dem Lévi-Strauss mit ungewöhnlichem Pathos betont, dass unser Bedürfnis nach Lebenssinn nur in einem anderen, sensibleren Umgang mit Natur zu befriedigen wäre: «Die Berührung mit der Natur stellt die einzige ewige Erfahrung des Menschen dar, die einzige, von der wir mit Sicherheit wissen, dass es eine wahrheitsgetreue Erfahrung ist – den einzigen zurzeit absoluten Wert, auf den wir uns berufen können.»

König Sartre wird gestürzt

Loyer präsentiert uns freilich keinen Aussteiger, der in ursprünglichen Gesellschaften fernab der modernen Welt die abgekappte Nabelschnur zur Natur wieder anlegen will. Schliesslich war Lévi-Strauss mehr als fünfzig Jahre lang eine Institution des französischen Geisteslebens, der Motor einer wahren Ideenfabrik in der Grossstadt Paris.

Berühmt wurde er 1955 mit der Veröffentlichung von «Traurige Tropen», einem Werk, das sich jeder Gattungszuweisung entzieht und wohl gerade deshalb zum Kultbuch von Lesern mit verschiedensten Interessengebieten – Philosophie, Literatur, Ethnologie, Soziologie, Psychoanalyse – wurde.

Ein Jahr später schon publizierte eine französische Illustrierte ein Lévi-Strauss-Porträt unter dem Titel «Der intelligenteste Mann Frankreichs». Jean-Paul Sartre, der unangefochtene König der Pariser Intelligen­zjia, rückte in den Hintergrund, der Strukturalismus Lévi-Strauss’scher Prägung übernahm das Zepter und bestimmte in der anarchistischen Lesart, die ihm Foucault, Derrida, Lacan und Barthes gaben, noch jahrzehntelang das intellektuelle Klima der Geisteswissenschaften weit über Frankreich hinaus.

Ein ewig Fremder, auch zu Hause

Lévi-Strauss erhielt 1959 den Anthropologie-Lehrstuhl am Collège de France. 1973 wurde er in die Académie française gewählt, in Frankreich gleichbedeutend mit dem Einrücken in die Unsterblichkeit (der er zuletzt als Hundertjähriger auch physisch nahekam). Wie verträgt sich diese Spitzenkarriere im modernen Wissenschaftsbetrieb mit Lévi-Strauss’ Zivilisationskritik?

Denn wie Rousseau, auf den er sich gern und oft berief, hielt Lévi-Strauss wenig vom angeblichen «Fortschritt»; von «unterentwickelten Völkern» wollte er schon deshalb nicht reden, weil ihm eine Philosophie, die die Menschheitsgeschichte als gesetzmässige «Entwicklung» hin zu immer höheren Stufen der Naturbeherrschung betrachtet, nachgerade zuwider war.

Loyer zeigt sehr schön, dass Lévi-Strauss auch im Zentrum der intellektuellen Macht ein Aussenseiter blieb. Sie spricht vom «Syndrom des Ethnologen», der ein «ewiger Fremder» bleibt, und dies eben nicht nur in den exotischen Gesellschaften, die er untersucht. Lévi-Strauss, einer jüdischen Familie aus dem Elsass entstammend, floh 1935 vor der Normalkarriere eines französischen Gymnasiallehrers nach Brasilien, wo er erstmals mit den Indianerstämmen des Mato Grosso in Berührung kam.

Seine erste wissenschaftliche Expedition war, betrachtet man die organisatorischen Pannen und die Krankheiten, die sein Team dezimierten, eigentlich ein Debakel. Aber sie pflanzte ihm die lebenslange Liebe zu den sogenannten primitiven Völkern ein, in denen das leitende Prinzip des Zusammenlebens, wie er bald erkannte, nicht Konkurrenz und Überbietung, sondern «Gegenseitigkeit» war. Dann, im Zweiten Weltkrieg, ein abermaliges, diesmal erzwungenes Exil in den USA.

«Traurige Tropen»

Als er nach der Rückkehr nach Frankreich in den 1950er Jahren zweimal bei der Bewerbung um eine Pariser Professur scheitert und seine Universitätskarriere schon für beendet hält, schreibt er in einer Art von Zorn seine Erinnerungen an die brasilianischen Irrfahrten nieder.

«Traurige Tropen» ist ein Buch voller Widersprüche: ein Reisebericht, der das Reisen infrage stellt («Ich verabscheue Reisen und Forschungsreisende», so der berühmte erste Satz); ein Fachbuch, das die Verstrickung der Ethnologie ins westliche Zerstörungswerk reflektiert und den Verfasser damit als Mitschuldigen markiert; schliesslich der mitreissend geschriebene Lebensroman eines Mannes, der behauptet, kein schöpferisches Talent zu besitzen und am eigenen Ich nicht interessiert zu sein.

Das Gefühl allseitiger Distanz verliess Lévi-Strauss auch dann nicht, als er mit diesem provokanten Buch zur gallischen Lichtgestalt aufstieg. Er entpuppte sich als versierter Manager, Ideenvermarkter, ja sogar ansatzweise als Medienstar. Zugleich aber betrieb er, wie ein Besucher aus der Ferne, eine Ethnologie der französischen Gesellschaft.

Der grosse Indianerhäuptling

An der Aufnahme in die Académie française interessierten ihn die Rituale einer eigentlich anachronistischen, aber gerade deshalb schützenswerten Stammesgesellschaft. Er gönnte sie sich, so Loyer, «um des Vergnügens willen, einmal im Leben als grosser Indianerhäuptling verkleidet zu sein».

Loyer lehrt uns nicht zuletzt, Lévi-Strauss als Künstler zu sehen. War nicht auch seine Erfindung des Strukturalismus ästhetisch vermittelt? Der menschliche Geist webt nach Lévi-Strauss ein System von Unterscheidungen und Beziehungen in die Natur hinein – das ist seine «strukturierende» Grundoperation. In jeder Kultur gestaltet sich dieses über die Welt gelegte Bedeutungsnetz aber anders.

Das wissenschaftliche Weltbild der westlichen Gesellschaften mag, was die Wirtschaftserträge angeht, das erfolgreichste sein. Aber die «wilden» Denkweisen, die von Pflanzen und Tieren ausgehen und aus ihnen eine stimmige Ordnung des Kosmos und der Gesellschaft basteln, sind sinnlicher, prägnanter und damit auch einfach schöner. Wir sollten, gegen das drohende «Einerlei» der Weltgesellschaft, zumindest versuchen, sie in ihrer Vielfalt zu bewahren. Das ist die moralische Einsicht, die die Lektüre dieser klugen, glänzend geschriebenen Biografie vermittelt.

Emmanuelle Loyer: Lévi-Strauss. Eine Biografie. Deutsch von Eva Moldenhauer. Suhrkamp, Frankfurt am Main 2017. 1088 S., Fr. 78.90, E-Book Fr. 62.50.


Ausserdem in «Bücher am Sonntag»:

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