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Buchtipp: «Tyll» von Daniel Kehlmann – Gaukler im Weltbrand

Daniel Kehlmann versetzt in «Tyll» die Figur des Eulenspiegels in den Dreissigjährigen Krieg. Sein neuer Roman ist packend, erschütternd und zugleich sehr komisch.

Manfred Papst 5 min
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Marodierende Soldaten mit Dirnen im Dreissigjährigen Krieg. Gemälde von Simon de Vos; Kopie nach Rubens. (Bild: BAYERISCHE STAATSGEMÄLDESAMMLUNGEN)

Marodierende Soldaten mit Dirnen im Dreissigjährigen Krieg. Gemälde von Simon de Vos; Kopie nach Rubens. (Bild: BAYERISCHE STAATSGEMÄLDESAMMLUNGEN)

Eigentlich gibt es zwei Gaukler in diesem grandiosen Roman. Der eine ist Till Eulenspiegel, der abgründige Spassmacher aus dem 14. Jahrhundert, der über ein Volksbuch und zahlreiche Legenden früh ins kollektive Bewusstsein fand. Der andere ist Daniel Kehlmann, einer der wichtigsten Autoren der deutschen Gegenwartsliteratur, den seit seinem Erfolgsroman «Die Vermessung der Welt» (2005) jedermann kennt.

Kehlmann verpflanzt in seinem neuen Buch den Narren Tyll in den Dreissigjährigen Krieg, der Europa 1618 bis 1648 in die grösste Krise seiner bisherigen Geschichte stürzte. Er begann mit dem Fenstersturz von Prag, als böhmische Adlige Vertreter des Kaisers aus der Burg warfen, und löste Kämpfe aus, die während drei Jahrzehnten grosse Teile des heutigen Deutschlands in Schutt und Asche legten.

Mehrere politische und religiöse Konflikte überlagerten sich dabei: die habsburgischen Mächte Österreich und Spanien, dazu Frankreich, Dänemark und Schweden waren involviert. Die Verheerungen dieses Krieges sind ein Hauptthema der Barockliteratur und finden in Werken von Grimmelshausens Schelmenroman «Simplicissimus» über die ergreifenden Klagen von Gryphius bis zu den zeitlosen Kirchenliedern von Paul Fleming und Paul Gerhardt ihren Niederschlag.


Daniel Kehlmann

Der Autor wurde 1975 in München
geboren. Heute lebt er in Berlin, Wien und New York. Sein Werk umfasst Romane, Essays und Erzählungen. Sein erfolgreichstes Buch ist «Die Vermessung der Welt»


Das Besondere an Daniel Kehlmanns neuem Buch ist aber nun, dass es kein konventioneller historischer Roman ist und – trotz seinen 480 Seiten – ein opulenter Schinken schon gar nicht. Vielmehr ist er ein abgründiges, irisierendes, filigranes und komplexes Werk. Raffiniert vermischt es Fakten und Fiktionen. Natürlich wissen wir, dass Eulenspiegel nicht im 17. Jahrhundert gelebt hat. Aber so wie Kehlmann den spillerigen Narren in diese Welt stellt, vergessen wir das augenblicklich. Denn er passt in die Zeit der Desaster: als Rebell, Zyniker und Spötter, der alle Lügen seiner Epoche durchschaut.

Spiel mit der Geschichte

Von deren Wahnwitz ist er persönlich betroffen als Sohn eines Müllers, der sich mit Wissenschaft und Magie befasst. Zu seinem Unglück besitzt der Vater ein paar lateinische Bücher, die auf dem Index der Inquisition stehen. Dass er sie gar nicht lesen kann, hilft ihm nichts. Er wird gefoltert, bis er gesteht, und dann gehängt. Sein Sohn flieht und schliesst sich fahrendem Volk an.

Es wäre zu einfach, wenn wir nun behaupten würden, Tyll sei schlicht der Protagonist von Daniel Kehlmanns neuem Roman. Er taucht auf und verschwindet. Er irrlichtert durch den Text. Auch die Erzählperspektive wechselt in den acht Kapiteln immer wieder. Kehlmann ist ein Meister der Rollenprosa. Und eine lineare Zeit wäre diesem virtuosen Autor ohnehin zu langweilig. Gleichwohl nimmt er die Epoche in den Blick und führt sie aufs Differenzierteste vor.

Wir begegnen den Grossen der Zeit, dem schwedischen König Gustav Adolf, dem böhmischen König Ferdinand III. und seiner spanischen Gattin, dem Pfalzgrafen Friedrich V. und Elisabeth Stuart, die in einer Schlüsselszene des Romans die Zunge in die Winterluft hinausstreckt, um eine Schneeflocke auf ihr schmelzen zu lassen. Wir begegnen aber auch vielen namenlosen Menschen und bewundern ihren Lebenswillen.

Gezinkte Karten

So wie Tyll die Dorfbewohner, denen er das Geld aus der Tasche zieht, mit seinen Tricks hinters Licht führt, hält es auch Kehlmann mit seinem Erzählen. Das ist bisweilen verwirrend und immer hinreissend. Der Mann hat immer nochmals eine gezinkte Karte in der Tasche.

Offensichtlich ist, dass Daniel Kehlmann für diesen Roman viel recherchiert hat und sich gründlich in der Geschichte auskennt. Aber das ist nicht der Punkt. Vielmehr geht es darum, was er aus seinem Wissen macht. Ein Beispiel: Den Universalgelehrten Athanasius Kircher (1602-1680), von dem wir eine Vielzahl enzyklopädischer, meist auf Lateinisch verfasster Werke kennen, nicht zuletzt zur Chinakunde, lässt Kehlmann als grässlichen Gnom auftreten, der nicht nur Unsinn ohne Ende verzapft, sondern auch zu den Schergen von Tylls Vater gehört hat.

Zusammen mit dem Doktor Tesimond, Hexencommissarius ad hoc, hat er den Angeklagten vom Leben zum Tode befördert. Wie der Erzähler hier Athanius Kircher vorführt, das ist gleichwohl unglaublich komisch und von jener göttlichen Bosheit, wie wir sie von Heinrich Heine her kennen.

Gelehrsamkeit und Pfiffigkeit mischt Kehlmann in seinem neuen Roman. Da denken wir natürlich an Umberto Eco und seinen Erfolgsroman «Der Name der Rose» (1980). Das Spiel mit Wissen und Phantasie verbindet die beiden Schriftsteller. Fiktiven Figuren werden historische Handlungen zugeschrieben und umgekehrt.

Hysterie und Gewalt

So entstehen die erstaunlichsten Vexierbilder. Eco setzt zudem auf die Kraft des Kriminalromans, auf eine Kette ungelöster Verbrechen. Das tut Kehlmann nicht. Aber auch er liebt das Rätselspiel, auch er wendet sich augenzwinkernd an ein gebildetes Publikum.

Unterschwellig können wir in den Schrecken des Dreissigjährigen Krieges auch immer wieder unsere eigene Zeit erkennen. Die Linien sind nicht mit dickem Filzstift ausgezogen. Gleichwohl bemerken wir sie. Beispielsweise in den Bildern von Hysterie und Gewalt, die der Autor in Szene setzt.

Kehlmann setzt mit «Tyll» die grosse Tradition der deutschen Literatur zum Dreissigjährigen Krieg fort, die vom Volksbuch über Schillers «Wallenstein» zum gleichnamigen Roman von Alfred Döblin führt, in dem sich der Weltbrand im expressionistischen Lodern der Sprache spiegelt.

Auf der Suche nach Drachen

Mit diesem Werk hat Daniel Kehlmann seinen Roman «Die Vermessung der Welt», die fiktive Doppelbiografie des Mathematikers Carl Friedrich Gauss und des Naturforschers Alexander von Humboldt, sogar noch übertroffen. Man möchte ihm viele geneigte Leser wünschen. Leser, die neugierig und auch bereit sind, sich an der Nase herumführen zu lassen. Zur Erinnerung: Von der «Vermessung der Welt» wurden allein im deutschen Sprachraum 2,3 Millionen Exemplare verkauft.

Kehlmanns Tyll ist nicht nur ein vagabundierender Narr, sondern auch ein Freigeist im Vorfeld der Aufklärung. Listig präsentiert er uns die Aporien der Wahrnehmung, beispielsweise, wenn gegen Ende des Buches der erwähnte Gelehrte Athanasius Kircher in Schleswig-Holstein einen Drachen sucht. Er findet ihn nicht. Doch genau das ist für ihn der Beweis für die Existenz des Untiers: Denn echte Drachen sind per definitionem unsichtbar.

Sprachjongleur

Daniel Kehlmanns neuer Roman ist ein Werk von Welthaltigkeit und exakter Vorstellungskraft. Sprachlich ist es makellos, das Netz der Anspielungen ist fein geknüpft, die Dialoge sind lebendig. Bisweilen erinnert das Buch an die Wimmelbilder von Bosch und Brueghel.

Manche Kapitel von «Tyll» sind zeitlich leicht zu verorten, andere verschwinden im Nebel. Wir lesen eine packende Geschichte und sind uns doch bewusst, dass wir in jedem Augenblick durch den brüchigen Bretterboden fallen und in einem Verlies - oder gar in einer wundersamen Gegenwelt? - landen können.

Gewiss: Wir schauen hier einem Jongleur zu. Einem, der mit der Sprache zu spielen versteht. Aber da ist mehr. Die Geschichte hat ihre existenzielle Dringlichkeit. Sie schildert eine schlimme Zeit, deren Verwerfungen die Topografie Europas bis heute prägen.

Daniel Kehlmann: Tyll. Roman. Rowohlt, Reinbek 2017. 480 S., Fr. 31.90.