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Müzik ist politisch

Das türkische Borusan-Orchester spielt in Zürich die Uraufführung eines britischen Werks unter der Leitung eines österreichischen Dirigenten. Ein Projekt, das unversehens zur völkerverbindenden Vision geworden ist. Eine Reportage aus Istanbul.

Christian Berzins 5 min
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Der russische Geiger Vadim Repin und sein deutsch-britischer Kollege Daniel Hope beim Auftritt mit dem türkischen Borusan Orchester in Istanbul. (Bild: Ozge Balkan/Borusan)

Der russische Geiger Vadim Repin und sein deutsch-britischer Kollege Daniel Hope beim Auftritt mit dem türkischen Borusan Orchester in Istanbul. (Bild: Ozge Balkan/Borusan)

Nach 75 Jahren hat Frédéric Chopin in der Türkei ausgespielt. Bei einer offiziellen Beerdigung gefallener Türken spielte die Kapelle jeweils seinen Trauermarsch. Seit einem Monat aber tröstet «Segah Tekbir» des türkischen Komponisten Mustafa Itri die Seelen. Bei einer mit Chopin begleiteten Beerdigung eines Polizisten war es im Sommer zu Protesten gekommen. Es sei falsch, so das Innenministerium danach, dass zwischen türkischem Märtyrer und der Moschee ein polnischer Musiker stehe. Darüber berichtete Can Dündar, Chefredaktor der Onlineplattform «Ögürüz», besorgt in der «Zeit» und meinte, dass die Türkei mit solchen Aktionen auf eine ungeheure Spaltung zumarschiere.

Die Geste zeigt, wie politisch Musik ist und wie gefährlich sie Machthabern werden kann, da sie ihre Botschaften wortlos vermittelt. Das weiss der Milliardär Ahmet Kocabiyik nur zu gut. Mit seinem Geld unterstützt er dennoch seit 1999, und vor allem immer noch, das türkische Borusan-Orchester, das er einst – vollmundig seine Worte – unter die 15 besten der Welt bringen wollte.

Fast 6,5 Millionen Schweizerfranken beträgt das Budget des Orchesters, das damit keine 20-mal im Jahr auftritt. Etwas mehr als 6 Millionen tragen die Borusan-Firmen dazu bei. Die Frage, ob die Wirtschaft damit Einfluss auf das Orchesterbudget habe, beantwortet Ahmet Erenli, Generalmanager der Borusan-Stiftung, beim Abendessen mit Thunfisch, türkischem Wein und Anisschnaps entschieden mit «Nein». Allerdings braucht es danach einen Hinweis auf die spektakuläre Aussicht auf den Bosporus, damit das Gespräch wieder in Gang kommt.

Später fragen wir dennoch, ob es gebilligt werde, dass ein türkisches Orchester in dieser Zeit bei einem englischen Komponisten ein neues Werk in Auftrag gebe. «Ja, durchaus», hören wir, «aber wir geben acht, dass wir auch türkische Musik spielen.»

Viele Frauen im Orchester

In den Strassen scheint der Putsch vom Juli 2016 vergessen - oder verdrängt. Es gebe zwar mehr Kopftücher zu sehen, versichert man uns: «Frauen, die einen guten Job wollen, tragen es.» Und die Familienministerin schreitet nach einem Auftritt naturgemäss tief verschleiert aus dem «Swissôtel».

Aber die Körpersprache vieler Menschen ist eine andere: Der Rocksaum der jungen Frauen liegt durchaus einmal über dem Knie, die Schultern sind auch mal frei, man redet offen, die vollen Hipster-Kaffees sind cooler als jene in der Zürcher Langstrasse. Im Taxi können sich auch angeregte politische Diskussionen entwickeln. Und beim Blick ins Borusan-Orchesterrund fallen die vielen Frauen auf.

Selbst am Kontrabass und an der Pauke sitzen sie, an Stellen, wo in Zentraleuropa kaum je Frauen zu sehen sind. Aus dem Borusan-Orchester spricht eine moderne Türkei, eine europäisch orientierte. Dazu passen die 2014 geäusserten Worte des Mäzens Ahmet Kocabiyik: «Kunst macht die Leute nachdenklich, friedvoll, sozial, warmherzig und, als Resultat all dessen, glücklich.» Was er nicht sagt: Wenn ein Industrieller in diesem Land heute Millionen verdienen will, muss er sich arrangieren.

Die Verantwortlichen des Borusan Istanbul Philharmonic Orchestra geben sich denn auch sehr diplomatisch. Doch der schwärmerische Gedanke lässt einen nicht los, dass diese Formation in Istanbul durchaus Beethovens 9. Sinfonie spielen, Schillers vertonte «Ode an die Freude» (und die Freiheit) ins Rund schmettern und alle Menschen zu Brüdern werden lassen könnte.

Das abendliche Verkehrschaos verhindert das Aufkommen weiterer Utopien. Die Million Menschen, die jeden Tag in die 17-Millionen-Metropole hinein- und wieder hinausfahren, scheinen allesamt um 18 Uhr unterwegs zu sein. Nach 90 Minuten erreichen wir das Probelokal, ein hochmodernes Borusan-Gebäude voller BMW-Produkte. Doch siehe da: Im dritten Stock gelangt man in einen langgezogenen Saal, der recht gut klingt. Und prompt kehren auch die romantischen Gedanken wieder zurück: Im langsamen Satz der mit Hochspannung erwarteten Welturaufführung des Doppel-Violinkonzertes von Mark-Anthony Turnage (*1960) verbindet sich wegen einer offenstehenden Türe der Singsang des Muezzins mit den Orchesterklängen.

Am nächsten Tag bei einem Gespräch mit dem englischen Komponisten, den zwei Geigern – der eine russisch, der andere britisch-südafrikanisch mit deutschen Pass – und dem österreichischen Dirigenten werden die Gedankenspiele erneut angeregt: Musik als Brückenbauer für die Türkei? Ein Land, in dem – wie man uns im vertrauten Gesprächs am Vortag sagte – nach wie vor jeder ins Gefängnis kommen kann, bloss weil er nicht für die Regierung ist. Man mag es Zufall nennen, aber dieses anspruchsvolle Uraufführungsprojekt, das vor drei Jahren in hoffnungsvoller Zeit geplant wurde, findet nun in einem schwierigen Moment seine grossartige Vollendung. Umso schöner, ist Zürich daran beteiligt.

Einmal mehr hat Daniel Hope, Leiter des Zürcher Kammerorchesters (ZKO) und Hansdampf in allen Gassen, die Finger im Spiel. Er kam mit seinem russischen Kollegen Vadim Repin auf die Idee, beim berühmten Komponisten Mark-Anthony Turnage ein Konzert für zwei Violinen in Auftrag zu geben, es mit dem Orchester aus Istanbul einzustudieren, mit türkischem Schlagwerk anzureichern und dann der Welt zu zeigen. Eine grosse Geste.

Der Geiger schmunzelt. Er wollte das Programm zwar unter allen Umständen auch in Zürich spielen, bekennt aber, dass es vor drei Jahren ein ganz normales Projekt war, ohne völkerverbindende Vision dahinter. Und dennoch setzt er exklusiv für das Konzert in Zürich noch einen drauf, holt das «Volk» ins Boot: In der Maag-Halle werden Hope und sein Star-Kollege Vadim Repin zusammen mit einer ZKO-Geigerin und einem Geiger aus dem Borusan-Orchester Vivaldis Konzert für vier Violinen aufführen.

Das teure Projekt ist zustande gekommen, weil Essen, das sibirische Nowosibirsk und Istanbul auf ideale Weise zusammenwirkten – und auch Zürich auf den Zug aufsprang. Nach der Welturaufführung am Donnerstag in Istanbul reisen die Orchester nach Essen, Ljubljana und Wien, nehmen dort das neue Werk auf CD auf, ehe sie dann am Mittwoch in Zürich auftreten.

Deutsche Journalisten blieben zu Hause

Bei allen Schönheiten dieses Projekts waren bei Daniel Hope auch viele Zweifel dabei, viele grundsätzliche Überlegungen – und nicht nur darüber, mit welchem Pass er in die Türkei einreisen solle. Gezeigt hat er schliesslich nicht seinen deutschen, sondern den irischen. Deutsche Journalisten sind dieser Tage trotz der Einladung und dem Konzert in Essen schon gar nicht in die Türkei gekommen, zu angespannt sei die Lage momentan zwischen den beiden Ländern, so die vermittelnde Agentur. Und auch Daniel Hope bekennt, dass unter Musikern diskutiert werde, wo man noch auftreten könne. Aber er selbst fragt rhetorisch: «Wo ist die Grenze? Schliessen wir auch Teile Afrikas aus? China? Die Türkei? Amerika?»

Nachspiel. Zu Beginn des Eröffnungskonzertes der Borusan-Saison wendet sich am Mittwochabend Dirigent Sascha Goetzel auf Englisch ans Publikum und erinnert daran, dass vor kurzem ein Orchestermusiker verstorben sei - für ihn spiele man W. A. Mozarts «Maurerische Trauermusik». Freimaurermusik in einem zunehmend repressiven Staat? Die Welt kann dank Musik phantastisch sein. Wie sagte doch Geiger Daniel Hope am Morgen beim Blick auf den Bosporus, der Asien und Europa verbindet: «Wir sind da, um zu musizieren – vielleicht entsteht eine Botschaft daraus.»


Erst in Istanbul, bald in Zürich

Seit 2008 leitet der österreichische Dirigent Sascha Goetzel das Borusan Istanbul Philharmonic Orchestra – mit Erfolg: 2014 trat man am berühmtesten Orchesterfestival der Welt auf, den Proms in London. Am Montagabend 23. 10. debütiert man im grossen Saal des Wiener Musikvereins, am Mittwoch 25. 10. in Zürich auf Einladung des Zürcher Kammerorchesters.

Konzert: 25. 10., 19.30 Uhr, Maag-Halle, Zürich. Werke von Turnage, Vivaldi und Rimski-Korsakow.


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