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Auch ich bin Opfer – und Täterin bin ich auch

Männliche Definitionsmacht, sexuelle Belästigung, Kleiderordnung oder gar sexuelle Gewalt. Die Wahrheit ist, dass tatsächlich alles zusammenhängt.

Nicole Althaus 3 min
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Belästigungen sind nicht zwingend physischer Natur. Manch ein Arbeitgeber gibt unumwunden zu, dass man nicht der beruflichen Qualitäten wegen in die engere Auswahl kam. (Symbolbild: Colourbox)

Belästigungen sind nicht zwingend physischer Natur. Manch ein Arbeitgeber gibt unumwunden zu, dass man nicht der beruflichen Qualitäten wegen in die engere Auswahl kam. (Symbolbild: Colourbox)

Ich bin es müde, über sexuelle Belästigung nachzudenken und dabei zu wissen, dass das nächste Hashtag nicht lange auf sich warten lassen wird. Ich bin es müde, mich zu fragen, wie ich denn über die Erlebnisse unter dem Hashtag #metoo schreiben müsste, damit es mit der «Coolness» und «Selbstironie» rüberkommt, die der Kollege beim «Tages-Anzeiger» in der Debatte über Harvey Weinstein vermisst.

Es hat mit Macht zu tun, dass es Themen von allgemeinem Interesse gibt und sogenannte Frauenthemen, deren man schnell überdrüssig wird. Wer über letztere schreibt, lernt deshalb wachsam zu sein, den Ton vorsichtig abzuwägen, und wählt den argumentativen Weg, der beschritten werden kann, ohne unnötig zu reizen.

Es ist eine Form der unfreiwilligen Selbstregulierung, die Frauen auch anwenden, wenn sie spätabends die menschenleere Abkürzung meiden oder im Kopf die Rocklänge vermessen, die einem Termin angemessen erscheint.

War mein Lachen Zeichen eines gesunden Masses an Selbstironie? Oder bloss der Beweis, dass ich mich nicht wehren konnte?

Man kann mir nun vorwerfen, dass ich alles durcheinanderbringe. Männliche Definitionsmacht, sexuelle Belästigung, Kleiderordnung oder gar sexuelle Gewalt. Und dass ich so Letztgenannte verharmlose. Die Wahrheit ist, dass tatsächlich alles zusammenhängt. Weil eine an sich harmlose Anzüglichkeit im Kontext eines Machtgefälles zum Übergriff mit sexistischen Konsequenzen werden kann.

Nur braucht es mehr als die 140 Zeichen eines Tweets, um das System dahinter zu entlarven. Patriarchale Machtstrukturen können nicht genauso an den Internetpranger gestellt werden wie ihre schlimmsten Repräsentanten: die Grabscher, die Vergewaltiger, die Weinsteins. Die Strukturen beruhen auf einer kulturellen Übereinkunft, die zwar seit Jahrzehnten kritisiert und langsam auch verändert wird, deren Grammatik aber alle beherrschen und anwenden. Auch Feministinnen. Auch ich.

Und nicht einmal die Rolle, die man einnimmt, ist immer glasklar: Als persönlichen Initiationsritus würde ich heute die verrutschten Blicke der Bauarbeiter bezeichnen, denen ich als Vierzehnjährige auf dem Schulweg ausgesetzt war. Nur fühlte ich mich damals als werdende Frau bestätigt, nicht belästigt. Wenn ich kein Opfer war, was dann? Mitspielerin?

Mit sechzehn stimmte ich ins allgemeine Gelächter ein, als mir der Mathematiklehrer an der Wandtafel vor der ganzen Klasse beschied, dass die Gleichung heute wohl deshalb so schwer aufzulösen sei, weil das doppelte x meiner Erscheinung mitmische. War mein Lachen Zeichen eines gesunden Masses an Selbstironie? Oder bloss der Beweis, dass ich mich nicht wehren konnte?

Wenn ich kein Opfer war, was dann? Mitspielerin?

Wirklich bedrängt fühlte ich mich bei einem meiner ersten Vorstellungsgespräche. Ich war zwanzig, Werkstudentin und hatte mich als Sachbearbeiterin in einem Architekturbüro beworben. Der Chef gab am Telefon unumwunden zu, dass ich dank der Passfoto, nicht der beruflichen Qualitäten wegen in die engere Auswahl kam, und fügte lachend an, dass er den Stundenlohn jeweils umgekehrt proportional zur Rocklänge ansetze. Nur ein blöder chauvinistischer Witz? Wahrscheinlich. Bloss, wie verhält man sich als junge Frau dazu? Ich brauchte den Job, also trug ich zum Termin ein Kleid, kein kurzes zwar, aber auch keine Hose.

Ich fühlte mich unwohl, war alles andere als stolz auf mich, aber ich bekam die Stelle. Spätestens damals hatte ich mich in ein System gefügt, das Frauen zwingt, sich permanent zur eigenen Weiblichkeit verhalten zu müssen, die eigene Wirkung stets zu überwachen. Professionelle Selektionskriterien werden damit nicht begünstigt.

Schlimmeres muss übrigens gar nicht passieren, um das Berufsleben entlang der Geschlechtergrenzen zu beeinflussen. Und auch wenn die Rocklänge heute nicht mehr offen kommentiert wird, der Spruch «Da kann man ja ebenso gut einen Mann befördern» fällt regelmässig, wenn eine Frau die Grenzen akzeptierter Weiblichkeit sprengt. Stören tut sich daran selten jemand. So funktioniert ein System, das Weinsteins möglich macht und deckt.

Nicole Althaus ist Chefredaktorin Magazine bei der «NZZ am Sonntag».