nzzas.ch

ETH-Ökonom: «Demokratien sind reformierbar»

Politiker sollten Verträge mit den Bürgern abschliessen, um wieder glaubwürdig zu werden und den Populismus zu bekämpfen, sagt der Ökonom Hans Gersbach.

Andreas Hirstein 5 min
Drucken
Abstimmung an der Landsgemeinde in Glarus. Die Beteiligung der Bürger stärkt das Vertrauen in die Demokratie. (7. Mai 2017) (Bild: Gian Ehrenzeller/Keystone)

Abstimmung an der Landsgemeinde in Glarus. Die Beteiligung der Bürger stärkt das Vertrauen in die Demokratie. (7. Mai 2017) (Bild: Gian Ehrenzeller/Keystone)

NZZ am Sonntag: In Osteuropa und in den USA regieren Populisten. Und bald auch in Österreich. Sind Demokratien noch reformierbar?

Hans Gersbach: Ja, durchaus. Durch unsere Forschung haben wir gelernt, dass es viel mehr Spielraum für Veränderung und Entwicklung gibt, als man glaubt.

Welche Vorstellungen hätten Sie für die Schweiz als direkte Demokratie?

Ein Vorschlag ist das Assessment-Voting. Die Idee ist, dass zunächst nicht das ganze Volk über eine Initiative abstimmt, sondern nur eine zufällig ausgewählte, repräsentative Menge von vielleicht 50 000 Menschen. Anhand dieser Vorabstimmung könnten die Initianten entscheiden, ob sie ihre Vorlage nach einem Misserfolg zurückziehen oder das ganze Volk darüber abstimmen lassen wollen. Gültig wird ein Entscheid natürlich nur, wenn es zu einer zweiten Abstimmung kommt, an der die übrigen Stimmbürger teilnehmen können.


Zur Person

Hans Gersbach ist Professor für Makroökonomie an der ETH Zürich. Er leitet zudem den wissenschaftlichen Beirat des deutschen Wirtschaftsministeriums. Gersbach habilitierte sich 1995 an der Universität Basel und war zwischen 1995 und 2006 Professor in Heidelberg. Seine Forschung über Demokratien-Reformen hat er dieses Jahr im Springer-Verlag veröffentlicht.


Welche Probleme wollen Sie so lösen?

Abstimmungskampagnen sind sehr aufwendig, und Initiativen haben oft keinerlei Chance. Es wäre billiger und verwaltungstechnisch einfacher, wenn man sie zunächst in einer kleinen Gruppe diskutieren würde.

Das würde heissen, dass es zunächst nicht zu politischen Kampagnen kommt?

Genau: Nur die 50 000 Stimmberechtigten würden Informationsunterlagen erhalten und könnten zum Beispiel auch an Online-Chats teilnehmen.

Besteht nicht die Gefahr, dass man diese wenigen Menschen einfach beeinflussen könnte, zum Beispiel durch materielle Zuwendungen?

Theoretisch ginge das. Man müsste gewährleisten, dass die Erstrunden-Wähler den Initianten nicht bekannt sind. Um sie trotzdem ansprechen zu können, entwickeln wir mit unseren Kollegen von Departement Computer Science Kommunikationswege, welche Anonymität gewährleisten können.

Die Flut von Initiativen liesse sich auf diese Weise nicht einschränken. Es würde sie nur kostengünstiger machen.

Doch, durchaus. Initiativen, die vor Wahlen lanciert werden, nur um besser Wahlkampf führen zu können, würden weniger attraktiv. Zudem könnte das Assessment-Voting dazu beitragen, dass Initiativen sorgfältiger formuliert werden.

«Wir haben das Problem, dass Amtsinhaber fast automatisch bestätigt werden, wenn sie keine Skandale verursacht haben.»

Welche Veränderungen würden Sie den repräsentativen Systemen empfehlen?

Wir haben Vorschläge gemacht, die in direkten und repräsentativen Demokratieformen sinnvoll wären, zum Beispiel eine einfachere Schuldenbremse. Die Idee dabei ist, dass die qualifizierenden Mehrheiten für den Staatshaushalt von der Höhe der jeweiligen Neuverschuldung abhängen sollten. Bei einer Neukreditaufnahme von 0 bis 1 Prozent des Haushalts wäre eine Mehrheit von 55 Prozent im Parlament erforderlich, bei höheren Neuverschuldungen stufenweise noch grössere Mehrheiten. Das führt automatisch zu einer Schuldenbremse, die nicht zu umgehen ist und die trotzdem flexibel wäre. Im Falle einer Krise könnte die erforderliche Mehrheit im Parlament zustande kommen.

Haben solche Ideen eine Chance?

Wir haben diesen Vorschlag in Deutschland bekanntgemacht, wo er breit diskutiert wurde. Übrigens könnte man das Konzept der flexiblen Mehrheitsregeln auch auf die Wahl von Politikern übertragen.

Wie soll das funktionieren?

Wir haben in der Schweiz und in anderen Ländern das Problem, dass Amtsinhaber fast automatisch bestätigt werden, wenn sie bekannt sind und keine Skandale verursacht haben. Neue Bewerber haben keine Chance. Man könnte deswegen verlangen, dass Amtsinhaber einen höheren Stimmenanteil zur Wiederwahl benötigen.

Im Grunde ist das undemokratisch, weil eine Stimme für den Amtsinhaber dann weniger wert ist als die Stimme für den Herausforderer. Ihr Vorschlag verletzt die Regel: One man, one vote.

Dieses Verfahren soll die Chancengleichheit fördern. Es ist nicht undemokratisch, denn ein Amtsinhaber hat durch sein Amt grosse Vorteile, die andere Bewerber nicht haben.

Chancengleichheit gibt es aber doch ohnehin nicht: Manche Kandidaten sehen besser aus oder haben mehr Geld für ihre Kampagne.

Nicht alle Unterschiede kann man ausgleichen, aber dort, wo es möglich ist, sollte man es tun. Übrigens wurde dieses Instrument in Parteien genutzt, sowohl bei der SP als auch bei der SVP Zürich.

Das ist eigentlich eine Amtszeitbegrenzung.

Es ist eine milde Form von Amtszeitbeschränkung. Und selbst strikte Amtszeitbeschränkungen werden typischerweise nicht als undemokratisch angesehen.

Ein viel grösseres Problem ist, dass Politiker ihre Wahlversprechen nicht einhalten.

Politiker sollten die Möglichkeit haben, «politische Verträge» mit den Wählern abzuschliessen. Sie sollten verifizierbare Versprechen abgeben, die nach einer bestimmten Zeit von einer autorisierten Stelle überprüft würden. Es muss sich dabei natürlich um eindeutige Sachverhalte handeln, nicht um vage Versprechen.

«Make America Great Again.»

Genau, das wäre sehr problematisch und würde für einen politischen Vertrag nicht akzeptiert. «Die Mehrwertsteuer wird nicht erhöht» dagegen wäre justiziabel.

Wie könnten die Konsequenzen aussehen, wenn ein Versprechen verletzt würde?

Im einfachsten Fall könnte man die erneute Kandidatur verbieten. Das müsste schon im Vertrag festgehalten werden. Es wäre auch denkbar, die Pension zu kürzen.

Die meisten Wahlversprechen sind nicht verifizierbar.

Absolut. Das System könnte aber dazu führen, dass solche unrealistischen Aussagen nicht mehr gemacht würden. Es würde die Politiker zwingen, ehrlicher mit den Bürgern zu kommunizieren.

Aber es besteht die Gefahr, dass Versprechen gemacht werden, die nur gut tönen und nicht relevant sind. Es könnte zu einem Schönheitswettbewerb auf Nebenschauplätzen kommen.

Diese Gefahr gibt es auch im heutigen politischen System. Allerdings gibt es hier den Vorteil des Wettbewerbs. Wenn eine Partei nur leicht zu erfüllende Versprechen macht, haben andere Parteien die Möglichkeit, die Stimmbürger mit relevanteren Versprechen überzeugen.

Solche Verträge wären mit dem Ideal von freien Abgeordneten nicht zu vereinbaren. In Deutschland etwa sind Abgeordnete nur ihrem Gewissen verpflichtet, in der Schweiz stimmen sie laut Bundesverfassung «ohne Weisungen».

Wir haben das mit Verfassungsjuristen angeschaut. In Deutschland, zum Beispiel, brauchte es in der Tat eine Grundgesetzänderung. Die Freiheit der Abgeordneten müsste erweitert werden um die Freiheit, sich selbst solchen Verträgen zu unterstellen.

Und das soll das Vertrauen in die Demokratie wieder stärken?

Ja, daran glaube ich. Vertrauen ist eine Voraussetzung für das Funktionieren von Demokratien. Und durch mehr Partizipation kann man Vertrauen stärken und die negative Entwicklung des Populismus aufhalten. Das wäre ein grosser Schritt.