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Gläsernes Baby: Informationen aus Gentests prägen uns das ganze Leben

Forscher entschlüsseln das Erbgut von Neugeborenen. Erste Studien untersuchen, welche Folgen dies hat – für die
Kinder und ihre Eltern.

Theres Lüthi 6 min
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Viele Eltern und ihre Kinder werden wissen wollen, was in ihrer DNA steckt. (Bild: Getty Images/Cultura RF)

Viele Eltern und ihre Kinder werden wissen wollen, was in ihrer DNA steckt. (Bild: Getty Images/Cultura RF)

Wenige Stunden nachdem ein Neugeborenes das Licht der Welt erblickt, geht es bereits zum ersten Screening. Mit einem Pikser in die Ferse wird etwas Blut entnommen und biochemisch auf neun angeborene Stoffwechsel- und Hormonmangelkrankheiten geprüft. Werden diese Krankheiten nicht frühzeitig entdeckt und behandelt, kommt es in den meisten Fällen zu schweren Organschädigungen und Entwicklungsstörungen. Dank diesem Verfahren bleibt jährlich rund hundert Kindern in der Schweiz ein schweres Leiden erspart.

Das Neugeborenen-Screening gilt als eines der erfolgreichsten Präventionsprogramme der Medizin und wird in den meisten Ländern der Welt durchgeführt. Doch schon bald könnte das Neugeborenen-Screening eine völlig neue Dimension annehmen.

«Die Revolution in der Gentechnologie erlaubt es uns, einen grossen Schritt vorwärtszugehen und viel umfassendere genetische Untersuchungen auch am Neugeborenen zu machen», sagt Robert Green, Professor für Genetik an der Harvard Medical School. «Mit den sinkenden Preisen der Genomsequenzierung und der besseren Interpretation der Genomdaten werden viele Eltern und ihre Kinder wissen wollen, was in ihrer DNA steckt», sagt Green. «Sie werden das wissen wollen, damit sie, falls sie krank werden, ihre DNA befragen können.»

Das erste Projekt seiner Art

Green ist Leiter von «BabySeq». Ziel dieses von den National Institutes of Health finanzierten Projekts - das erste seiner Art - ist es, im Rahmen einer klinischen Studie herauszufinden, wie Genom-Analysen am Neugeborenen sich sinnvoll in die klinische Pädiatrie integrieren lassen. 200 gesunde Neugeborene sowie 200 Neugeborene, die auf die Intensivstation gebracht werden mussten, nehmen an der Studie teil. Bei jeweils der Hälfte einer Gruppe wird das Genom vollständig entschlüsselt, die andere Hälfte dient als Kontrollgruppe. Kommuniziert werden Daten über Genvarianten, die mit Krankheiten in Verbindung stehen oder die die Wirkung von Arzneimitteln beeinflussen.

Mindestens ein Jahr lang werden die Studienteilnehmer beobachtet. Dabei soll erfasst werden, wie sich die Eltern fühlen und wie sie mit der zusätzlichen genetischen Information umgehen. Empfinden Eltern von gesunden Babys sie als belastend? Erachten die Eltern von kranken Babys die Genomdaten als hilfreich? Wären sie glücklicher ohne die Informationen? Auch die behandelnden Ärzte werden befragt, inwiefern die Genanalyse die medizinische Betreuung beeinflusst.


Fersen-Pikser

(Bild: Picasa)

(Bild: Picasa)

Seit 50 Jahren testet man Neugeborene biochemisch auf Stoffwechsel- und Hormon–mangelkrankheiten. Je nach Land werden zwischen 6 und 31 Krankheiten geprüft, in der Schweiz sind es 9. Je mehr Krankheiten getestet werden, umso grösser ist die Zahl der falsch positiven Ergebnisse, für die zusätzliche Abklärungen nötig sind.


Green ist überzeugt, dass die Genomanalyse der Gesundheit der Neugeborenen zugutekommt, und führt Beispiele an: «Ein Baby kommt zwar gesund zur Welt, doch die Genomanalyse offenbart ein erhöhtes Risiko für eine Herzkrankheit. Dank dieser Information wird man das Baby engmaschig untersuchen und Probleme frühzeitig erkennen.»

Möglich sei auch, dass die Genomsequenz zunächst nichts Auffälliges offenbare. Doch einige Monate später leide das Baby plötzlich an Krampfanfällen. Nun könne man das Genom auf jene Gene untersuchen, die mit Krampfanfällen assoziiert sind, um die molekularen Ursachen zu verstehen, ohne sich wie üblich auf eine ärztliche Odyssee begeben zu müssen.

Green und seine Kollegen haben eine vorläufige Liste von rund 1200 Genvarianten erstellt, über die Bericht erstattet wird. Ausgewählt wurden Varianten, die mit hoher Wahrscheinlichkeit Krankheiten im Kindesalter verursachen. In den meisten Fällen handelt es sich indessen um sogenannte rezessive Krankheiten. Das heisst: Nur wenn ein Kind im Besitz beider Kopien der Genvariante ist, bricht die Krankheit aus. Ist ein Kind Träger nur einer Gen-Kopie, könne dieses Wissen aber durchaus hilfreich sein, sagt Green.

Bei jedem Screening des Genoms gibt es gemäss Experten Zufallsbefunde. Die Verunsicherung, die dadurch geschaffen wird, ist immens.

«Der Reiz, das Genom eines Neugeborenen zu sequenzieren, liegt darin, dass man dies am Anfang des Lebens tut», sagt Green. «Man erhält Informationen über Krankheiten, die im Säuglingsalter, in der Kindheit, im Jugendalter – oder auch erst im Erwachsenenalter zum Ausbruch kommen.»

Diese umfassende Vorsorge im jüngsten Alter geht für viele Experten aber zu weit. Als juristisch und ethisch heikel erachtet Anita Rauch, Leiterin des Instituts für Medizinische Genetik der Universität Zürich, das Vorhaben. Bei jedem Genom-Screening gebe es Zufallsbefunde, deren Relevanz man nicht immer verstehe. Die Verunsicherung, die dadurch geschaffen werde, sei immens. Die Gefahr sei gross, dass man aus einem gesunden Kind ein krankes mache. «Das Kind wird aufgrund der Informationen vielleicht keine Lebensversicherung erhalten, oder möglicherweise wird es nicht gleichberechtigt am Erbe beteiligt», sagt Rauch.

Nur über therapierbare Leiden wird informiert

Kommt hinzu, dass die Genomanalyse nicht nur die Gesundheit des Säuglings tangiert, sondern oftmals auch Dinge über andere Familienmitglieder offenlegt. Kontrovers diskutiert wird etwa die Handhabung von Informationen über Krankheiten, die sich erst im Erwachsenenalter bemerkbar machen. Einig ist man sich darin, dass schwere Leiden, für die es keine Therapien gibt, nicht kommuniziert werden sollen. Hierzu zählen etwa die Huntington-Krankheit oder die vererbbare Frühform von Alzheimer. Unklarer sieht es hingegen bei Krankheiten aus, bei denen man prophylaktisch eingreifen kann.

Ein Beispiel ist das Brustkrebsgen BRCA1. Ist eine Frau Trägerin dieser Genvariante, wird sie mit einer Wahrscheinlichkeit von 72 Prozent an Brustkrebs erkranken. «Für das Neugeborene wird diese Genmutation noch lange keine Rolle spielen. Aber vielleicht ist auch die Mutter Trägerin der Mutation und weiss es selber nicht», sagt Green. Zwar profitiere das Kind nicht direkt von der Offenlegung dieser Information, wohl aber indirekt. «Kann mit einer frühen Intervention das Leben der Mutter gerettet werden, wirkt sich dies auf die Lebensqualität des Kindes aus.» Green hat das Studienprotokoll kürzlich dahingehend abgeändert, dass die teilnehmenden Eltern auf Wunsch über einzelne Krebsrisikogene informiert werden.

«Genetische Tests bei Kindern ohne besonderen Anlass stehen in klarem Widerspruch zum Recht eines Kindes auf ein selbstbestimmtes Leben und zu seinem Recht auf Nichtwissen, sagt Andrea Büchler, Professorin für Familien- und Medizinrecht und Präsidentin der Nationalen Ethikkommission der Schweiz. «Sind genetische Informationen einmal vorhanden, dann ist es eine Frage der Zeit, bis nicht nur die betroffene Person, sondern auch Versicherungen, Arbeitgeber oder Schulen einen Anspruch auf die Informationen geltend machen werden.»

Eltern bekunden Interesse

In der Schweiz sind genetische Tests an gesunden Neugeborenen untersagt. Im Bundesgesetz über genetische Untersuchungen beim Menschen, das sich derzeit in Revision befindet, heisst es: «Bei einer urteilsunfähigen Person darf eine genetische Untersuchung nur durchgeführt werden, wenn sie zum Schutz ihrer Gesundheit notwendig ist.»

Wie der Passus «zum Schutz ihrer Gesundheit» genau zu interpretieren ist, bleibt aber offen. Was heute undenkbar ist, könnte dereinst möglich sein. Vielleicht wird man per Genomanalyse am Neugeborenen eine Anfälligkeit für eine psychische Krankheit in der Adoleszenz aufdecken können, die sich mit verhaltenstherapeutischen oder medikamentösen Massnahmen abwenden lässt. In diesem Fall würde die Genomanalyse dem Schutz der Gesundheit dienen.

Noch sind das nur Gedankenspiele. Auch Robert Green geht nicht davon aus, dass die Genomanalyse am Neugeborenen demnächst Routine wird. «Fragt man angehende Eltern, ob sie rein hypothetisch eine Genomanalyse machen möchten, so sind die meisten interessiert», sagt er. Werden sie aber auf der Geburtsstation um eine konkrete Beteiligung gebeten, willigen nur etwa zehn Prozent ein. Doch sicher ist, dass die Genomrevolution die Medizin umkrempeln wird. «Das Thema hat ganz viele Dimensionen», sagt Büchler. «Genetische Tests bei Kindern ist ein Bereich, der in der Schweiz nur sehr rudimentär geregelt ist, dazu wird man sich noch viele Gedanken machen müssen, und es braucht eine breite öffentliche Debatte.»


Neugeborenen-Screening in China

Seit kurzem bieten Firmen ihre Dienste auch im Bereich des Neugeborenen-Screenings an. So wird Veritas Genetics, ein in Boston domiziliertes Spin-off der Harvard University, demnächst «myNewborn» lancieren, einen «umfassenden Screening-Test für Ihr Neugeborenes, der Ihnen zuverlässige Informationen über die Gene Ihres Babys liefert», heisst es auf der Website. Wann der Test verfügbar sein wird, steht noch nicht fest. Man sei dabei, die Produktedetails zu finalisieren, sagt die Firmensprecherin auf Anfrage.

Bereits auf dem Markt seit Juni ist der Test in China. «myBabyGenome», wie er dort heisst, kann nur mit Zustimmung eines Arztes bestellt werden. Falls medizinisch bedeutend, werden die Befunde von Veritas in Zusammenarbeit mit dem Kinderarzt mitgeteilt. Der Test kostet 1500 Dollar und gibt Auskunft über 950 Gen­veränderungen, die mit Krankheiten in Verbindung gebracht werden. Ferner werden 200 Gene untersucht, welche die Arzneiwirkung beeinflussen, sowie 100 Gene für eine Reihe von «Merkmalen». Laut einem Artikel im «MIT Technology Review» figurieren Eigenschaften wie die Breite der Nase, die Anfälligkeit für Glatze bei Männern sowie draufgängerisches Verhalten auf der Liste.

Als ethisch ganz heikel erachtet Anita Rauch, Leiterin des Instituts für Medizinische Genetik der Universität Zürich, solche Informationen. «Man könnte sich vorstellen, dass dereinst Babys in China mit solchen Informationen in einen Lebensweg geleitet werden, der am besten zu den gefundenen Eigenschaften passt.» Ob auch das US-Produkt solche Informationen anbieten wird, wollte die Firmensprecherin von Veritas Genetics weder bestätigen noch verneinen. (tlu.)


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