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Die Grippe erreicht uns in ungefähr fünf Wochen

In Australien gab es in diesem Jahr eine heftige Grippewelle. Daraus zu schliessen, dass dies auch bei uns der Fall sein wird, wäre aber vorschnell, sagt der Influenza-Experte Samuel Cordey.

Theres Lüthi 6 min
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«Es ist in jedem Fall besser, sich impfen zu lassen, als auf die Impfung zu verzichten.» (Bild: Getty)

«Es ist in jedem Fall besser, sich impfen zu lassen, als auf die Impfung zu verzichten.» (Bild: Getty)

NZZ am Sonntag: Laut verschiedenen Medienberichten erwarten wir diesen Winter die schlimmste Grippewelle seit Jahrzehnten. Sind Sie beunruhigt?

Samuel Cordey: Es ist nicht möglich, vorherzusagen, wie eine Grippesaison aussehen wird, niemand, der auf diesem Gebiet tätig ist, kann das wissen. Was aber klar ist: Eine Saison, in der der Virussubtyp H3N2 vorherrscht, verläuft in der Regel heftiger. Das war letztes Jahr bei uns der Fall. Denn H3N2 verursacht schwerere Erkrankungen als der H1N1-Subtyp, und es gibt somit mehr Hospitalisierungen. Ob wir diesen Winter eine H3N2-, eine H1N1- oder eine B-Saison haben werden und ob die Grippewelle besser oder schlimmer wird als letztes Jahr, ist aber ungewiss.

Die Vorhersagen stützen sich auf die Grippewelle in der Südhalbkugel, die jetzt vorbei ist. Dort war die Grippe besonders schlimm.

Für Australien und Hongkong trifft das zu, es gab dieses Jahr überdurchschnittlich viele Fälle, und die Erkrankungen waren heftiger als gewöhnlich. Wir müssen uns auf eine schlimme Grippewelle gefasst machen - aber das müssen wir jedes Jahr. Es könnte aber auch sein, dass wir eine relativ milde H1N1- oder eine B-Saison haben werden.

Aber in der Regel erwarten wir die Grippe, welche die Südhalbkugel hinter sich hat. Dann sollten wir doch alarmiert sein?

Es könnte auch sein, dass die Grippesaison der Südhalbkugel eine Folge der letztjährigen Grippe bei uns war. Oder es könnte umgekehrt sein. Das Influenzavirus kann sich sehr schnell verändern. Wir neigen dazu, zu sehr auf die Ereignisse in Australien und Hongkong zu fokussieren. Dabei sind auch andere Regionen in Asien oder Südamerika wichtig. Und in einigen dieser Regionen zirkuliert vor allem H1N1 und nicht H3N2. Es ist also schwierig, vorauszusehen, mit welchem Virus wir es hier in Europa in einigen Wochen zu tun haben werden.


Samuel Cordey

Der Virologe Samuel Cordey, 39, leitet seit 2014 das Nationale Referenzzentrum für Influenza, welches in Zusammenarbeit mit dem Bundesamt für Gesundheit die Aktivität des Grippevirus in der Schweiz überwacht.


In welchen Regionen ist H1N1 vorherrschend?

Die Influenza-Überwachung ist in vielen Gebieten Afrikas mangelhaft, aber es scheint, dass H1N1 in manchen Regionen Afrikas überwiegt. Dann ist es auch wichtig, die Virusaktivität in Indien und in Pakistan zu überwachen. Das ist für Influenza eine kritische Region. Wir sollten uns also nicht auf Hongkong und Australien beschränken.

Der diesjährige Grippe-Impfstoff ist praktisch identisch mit dem letztjährigen. Und der Schutz war schon letztes Jahr nicht überragend – er lag bei 30 bis 40 Prozent. Müssen wir uns dieses Jahr wieder auf einen mangelnden Impfschutz gefasst machen?

Der Grippe-Impfstoff enthält 3 bis 4 Viren: H3N2, H1N1 sowie einen oder zwei Influenza-B-Viren. Für den diesjährigen Impfstoff ist nur der H1N1-Virus verändert worden. Letztes Jahr hatten wir den California-Stamm, dieses Jahr heisst er Michigan, aber sie sind sehr ähnlich. Man erachtet den Impfstoff deshalb als fast identisch mit dem letztjährigen. Und auf der Basis des H3N2-Virus, das derzeit zirkuliert, erwarten wir, dass der Impfstoff nicht optimal sein wird, die Wirksamkeit dürfte etwa ähnlich sein wie letztes Jahr. Aber nochmals, wir wissen noch nicht, welches Virus bei uns überwiegen wird. Zudem schützt der Impfstoff gegen H1N1 und Influenza-B. Deshalb empfehlen wir auch die Impfung.

Warum ist es so schwierig, einen wirksamen Grippeimpfstoff herzustellen?

Die Entscheidung, welche Virusstämme für den Impfstoff berücksichtigt werden sollen, fällt für die Nordhalbkugel im Februar. Denn es dauert mehrere Monate, um genügende Mengen herzustellen. Von Februar bis zum folgenden Winter kann sich das Virus verändern. Das ist mit H3N2 passiert. Das Virus, das jetzt in Umlauf ist, unterscheidet sich geringfügig von dem im Impfstoff enthaltenen. Dieser neue Stamm wird im nächstjährigen Impfstoff für die Südhalbkugel enthalten sein.

«Es ist auch wichtig, die Virusaktivität in Indien und in Pakistan zu überwachen. Das ist für Influenza eine kritische Region.»

Eine Erhebung des Bundesamts für Gesundheit fand kürzlich, dass im letzten Winter viel mehr Menschen an Grippe erkrankten als in den Jahren zuvor. Warum ist das so?

Vermutlich weil das H3N2-Virus überwiegte und der Schutz in der Bevölkerung niedrig war. Im Jahr davor hatten wir eine H1N1-Saison, und wir hatten auch B-Viren. Deshalb verliefen die Erkrankungen milder, und es gab weniger Arztbesuche.

Wenn man letztes Jahr Grippe hatte, ist man dann dieses Jahr geschützt, wenn sich das Virus nur geringfügig verändert hat?

Wie lange der Immunschutz anhält, ist nicht klar. Aber grundsätzlich ist man nicht immun, wenn man im letzten Jahr an Grippe erkrankte. Es mag sein, dass die Symptome etwas milder sind. Aber es sind verschiedene Viren, die in der Bevölkerung zirkulieren. Es ist also möglich, dass man letztes Jahr mit H3N2 infiziert wurde und dieses Jahr das H1N1-Virus erwischt.

Einige Experten behaupten, dass eine wiederholte Grippe-Impfung die Wirksamkeit der Impfung vermindern kann. Stimmt das?

Das war eine einzige Publikation, die das behauptete, ich wäre da also vorsichtig mit der Interpretation. Die Studie verglich zwei Gruppen von Kindern: Die eine wurde jedes Jahr geimpft, die andere nur in einem Jahr. Offenbar erkrankten in der Gruppe, die nur einmal geimpft wurde, weniger Kinder an Grippe. Eine mögliche Erklärung wäre, dass die Gruppe, die jedes Jahr geimpft wurde, weniger Antikörper gegen die Influenzaviren herstellte. Das könnte vor allem dann der Fall sein, wenn sich der Impfstoff über die Jahre kaum verändert. Weil das Immunsystem die Viren schon oft gesehen hat, fällt die Immunantwort weniger stark aus. Dies ist möglich, aber ich bin nicht zu 100 Prozent überzeugt. Es braucht ganz klar weitere Studien, die das bestätigen.

Ist die Wissenschaft des Impfens komplizierter als gedacht?

Das mag sein. Dennoch ist es in jedem Fall besser, sich impfen zu lassen als auf die Impfung zu verzichten. Und ganz unabhängig stellt sich natürlich die Frage: Impft man für sich selber oder für die Bevölkerung?

Was sagen Sie?

Impfen ist ein altruistischer Akt für die Bevölkerung als ganze. Wenn man nur an sich denkt, kann man schon sagen, ich impfe nur dann, wenn eine starke Immunantwort zu erwarten ist. Aber vielleicht lässt man sich impfen, um die Durchimpfungsrate in der Bevölkerung zu erhöhen und das Risiko für gefährdete Personen zu senken. Ich persönlich lasse mich jedes Jahr impfen, und ich empfehle es allen, die im Gesundheitsbereich arbeiten, schwangeren Frauen, jenen, die mit Kinder arbeiten, und Risikopersonen.

Sie überwachen die Grippeaktivität in der Schweiz. Wie sieht die derzeitige Lage aus?

Die Influenza-Überwachung fängt Anfang Oktober an. Manchmal beginnt die Grippewelle an Weihnachten, manchmal ist sie schon im November hier. Wir haben zurzeit nur einige wenige Fälle, aber manchmal haben wir auch im Sommer einzelne Grippefälle, wenn die Leute von ihren Ferien in Südamerika zurückkehren. Momentan ist die Aktivität sehr gering. Die Grippe ist noch nicht da, wir erwarten sie in etwa fünf Wochen.


Influenzaviren sind Verwandlungskünstler

Die Grippe wird durch Influenzaviren übertragen. Dieses Virus ist wandlungsfähig wie kein anderes: Nie sieht es aus wie im Jahr zuvor, immer wieder werden die beiden Eiweisse, die auf der Oberfläche des Virus sitzen und mit H und N abgekürzt werden, umgebaut. Influenzaviren fordern unser Immunsystem deshalb jeden Winter aufs Neue heraus. Entsprechend muss auch der Impfstoff jedes Jahr gemäss den Empfehlungen der Weltgesundheitsorganisation neu angepasst werden.

Influenzaviren lassen sich in A- und B-Viren unterteilen. Der Grippeimpfstoff besteht aus Fragmenten von Influenzaviren von drei bzw. vier verschiedenen Grippevirenstämmen. Der diesjährige Impfstoff enthält Virenbestandteile der Typ-A-Viren H1N1 und H3N2 sowie des Typs B. (tlu.)


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